Hinweis vom 10. Juli 2018: Der "Masterplan Migration" ist inzwischen vom Bundesinnenministerium veröffentlicht worden. Das Dokument ist nahezu identisch mit dem Papier von Horst Seehofer, das vorab bekannt geworden war.
Wer von einem "Masterplan Migration" einen umfassenden Vorschlag zur Migrationspolitik erwartet hatte, musste sich die Augen reiben. Die Vorlage von Horst Seehofer (CSU) beschränkt sich auf die Fluchtmigration – und das fast ausschließlich unter sicherheitspolitischen Aspekten: Es geht um die Erfassung, Abwehr, Kontrolle und Überwachung von Geflüchteten.
Viele wichtige Aspekte der Migrations- und Integrationspolitik werden dagegen nicht thematisiert. Vergeblich sucht man nach Vorschlägen, wie man die Integration in den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie in das Schulsystem fördern kann – oder mehr Wege für die legale Einreise schaffen könnte. Unter der Überschrift "Integration" werden zwar neun Maßnahmen genannt. Sie befassen sich aber ausnahmslos mit Integrationskursen – und mit dem Druck, der ausgeübt werden soll, um Migranten und Geflüchtete zur Teilnahme zu zwingen.
Pläne verstoßen gegen EU-Recht
Der "Masterplan" ist ein Musterbeispiel für das, was in der Politikwissenschaft "Versicherheitlichung" genannt wird. Der Politikwissenschaftler Ole Wæver hat dieses Phänomen schon in den 1990er Jahren beschrieben: Ein Thema wird in einer Weise dramatisiert, dass es absolute Priorität vor anderen Problemen gewinnt. Es wird als existenzielle Bedrohung dargestellt, sodass der Eindruck entsteht, es gehe ums Überleben. Wenn man dieses eine Problem nicht löst, kann man alles andere vergessen. Daraus folgt der Auftrag an die Politik, das Problem gesondert zu behandeln und die normalen politischen Regeln zu umgehen. In der Darstellung des Problems schaukeln sich Politik und Medien gegenseitig auf.
Prof. Dr. WERNER SCHIFFAUER ist Senior Scholar am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Er forscht zum Thema Islam und Muslime in Deutschland und ist Mitglied des Rats für Migration (RfM). Kürzlich hat er zwei Studien zu Flüchtlingsprojekten in Deutschland veröffentlicht.
Die Überlegungen Wævers finden sich in Seehofers "Masterplan" fast eins zu eins umgesetzt. Um das "Problem" Flucht zu lösen, werden autoritären Regimen wie Ägypten oder Warlords in Libyen Finanzhilfen zur Verfügung gestellt – und damit die üblichen außenpolitischen Regeln der Kooperation umgangen. Innenpolitisch werden geltende Gesetze außer Kraft gesetzt. So sieht der "Masterplan" vor, abgelehnte Asylbewerber auch dann abzuschieben, wenn sie Rechtsmittel gegen die Ablehnung eingelegt haben (Punkt 40). Das verstößt gegen europäisches Recht: Der Europäische Gerichtshof hat vor wenigen Wochen entschieden, dass während einer Klage nicht abgeschoben werden darf.
Auch die Pläne zur Abschiebungshaft sind rechtswidrig: Das EU-Recht sieht eine Trennung von Abschiebehäftlingen und anderen Gefangenen vor. Seehofer will diese Regelung vorübergehend aussetzen und Menschen, die in Abschiebehaft sind, künftig in regulären Strafanstalten unterbringen (Punkt 59). Die Rechtsverletzungen werden mit der "konsequenten Durchsetzung des Rechts" legitimiert, die das "Vertrauen in den Rechtsstaat" sichern soll. Das ist die klassische Figur eines Ausnahmezustands: Recht wird im Namen eines übergeordneten Rechts gebrochen.
Flüchtlinge werden kriminalisiert
Im "Masterplan" spiegelt sich ein bemerkenswertes Bild vom Asylbewerber als vermeintlichem Betrüger: Seehofer spricht von einer "Zuwanderung in die Sozialsysteme" und vom "Asylleistungsmissbrauch", der "bekämpft" werden müsse. Asylsuchenden sollen Sozialleistungen gekürzt werden, wenn sie ihre Mitwirkungspflichten – beispielsweise bei der Identitätsprüfung – verletzen (Punkt 38). Bemerkenswert ist, dass die Kriminalisierung auch auf Helferkreise ausgeweitet wird: Punkt 58 sieht die "Schaffung weiterer Sanktionsmöglichkeiten bei Behinderung der Durchsetzung der Ausreisepflicht durch Dritte" vor. Das erinnert an Ungarn, wo Flüchtlingshelfern seit Ende Juni Haftstrafen und Sondersteuern drohen.
Die Kasernierung von Geflüchteten in sogenannten Ankerzentren ist schon vielfach kritisiert worden. Der "Masterplan" liefert nun konkretere Hinweise darauf, wie diese "Ankerzentren" aussehen sollen. Die Unterbringung soll so unwirtlich wie möglich gemacht werden: Schutzsuchende sollen künftig über einen längeren Zeitraum Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten – und erst nach 36 Monaten höhere Leistungen nach Sozialgesetzbuch XII beziehen können (Punkt 39). Aktuell ist das nach 15 Monaten vorgesehen. Zudem sollen Asylsuchende in den Einrichtungen in der Regel Sach- statt Geldleistungen erhalten (Punkt 32).
Wie viele Asylanträge werden in Deutschland gestellt?
2018
- Von Januar bis Ende Mai 2018 wurden 78.026 Asylanträge gestellt, davon 68.368 Erstanträge.
- Das sind etwa 18 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
- Über 110.483 Anträge hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in dieser Zeit entschieden. Die Schutzquote lag bei 32,4 Prozent.
- 68.494 Asylsuchende sind in dieser Zeit nach Deutschland eingereist und wurden im Kerndatensystem erfasst.Quelle
2017
Im Gesamtjahr 2017 gab es 222.683 Asylanträge, davon 198.317 Erstanträge. Die Hauptherkunftsländer waren Syrien, Afghanistan und Irak. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat in dieser Zeit über 603.428 Anträge entschieden. Die Schutzquote lag bei 43,4 Prozent. 186.644 Asylsuchende sind in dieser Zeit nach Deutschland eingereist.Quelle
Monatlich aktualisierte Zahlen zu den Asylanträgen bietet der BAMF-Asylgeschäftsbericht.
Wie ist die Erstunterbringung von Geflüchteten bislang geregelt?
Asylsuchende werden in der Regel zunächst in einer Erstaufnahmeunterkunft untergebracht. Nach maximal sechs Monaten endet die Verpflichtung, dort zu wohnen. Anschließend kommen die Asylbewerber in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften unter, die von privaten Trägern oder Wohlfahrtverbänden betrieben und von den Kommunen verwaltet werden.
In welchem Bundesland die Asylsuchenden ihren Antrag stellen und auf die Entscheidung warten müssen, wird nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel entschieden. Ein weiteres Kriterium für die Verteilung ist die Herkunft der Asylsuchenden, da nicht jede Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge jedes Herkunftsland bearbeitet.Quelle
In der Kritik steht, dass es in Deutschland keine Mindeststandards für die Unterbringung von Flüchtlingen gibt, die für alle Bundesländer gleichermaßen gelten. In den Aufnahmegesetzen einzelner Bundesländer ist lediglich von einem "menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen" (Baden-Württemberg) beziehungsweise einem "menschenwürdigen Aufenthalt ohne gesundheitliche Beeinträchtigung" (Hessen) die Rede. In Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind Mindeststandards gar nicht in der regionalen Gesetzgebung verankert.Quelle
Im "Masterplan" heißt es: "Von allen Zuwanderern erwarten wir eine Identifikation mit unserem Land". Es bleibt ein Geheimnis des Papiers, wie diese positive Hinwendung bei Menschen erreicht werden soll, die in Deutschland als potenziell Kriminelle unter Generalverdacht gestellt werden.
Es ist höchste Zeit, einen ruhigeren Blick auf das Thema zu gewinnen und aus der medialen und politischen "Versicherheitlichungs-Schlaufe" herauszutreten. Anders als das Papier suggeriert, ist die Herausforderung, die mit der Aufnahme von Geflüchteten einhergeht, durchaus zu bewältigen. Das wurde in den vergangenen Jahren immer wieder unter Beweis gestellt. Migration und Flucht sind keine Politikfelder, die eine Ausnahmebehandlung erfordern. Die im "Masterplan" vorgeschlagenen Maßnahmen tragen jedoch den Stempel eines Aktionismus, der viel Schaden anrichtet und wenig Nutzen bringt.
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