Am 16. Dezember 1963 unterzeichneten die Ruhrkohle AG und die südkoreanische Overseas Development Corporation ein Abkommen, mit dem bis 1977 rund 20.000 koreanische Arbeitskräfte nach Deutschland kamen. Dass sie blieben, war – wie bei allen Gastarbeiter-Gruppen – nicht geplant.
Mediendienst: Die meisten koreanischen Bergarbeiter heirateten koreanische Krankenschwestern, die sie in Deutschland kennenlernten. Warum war das üblich?
You Jae Lee: Zum einen, weil es einfacher war: Man hatte die gleiche Herkunft, die gleiche Sprache, eine ähnliche Geschichte. Zum anderen war es für viele Männer der einzige Weg, in Deutschland zu bleiben. Ihre Verträge waren auf drei Jahre befristet. Danach stand in der Regel keine Aufenthaltsverlängerung in Aussicht. Die Krankenschwestern wurden dagegen weiter beschäftigt und durften bleiben. Wenn die Männer also nicht gerade die Kosten für ein Studium aufbringen konnten, blieb ihnen nur die Option zu heiraten. Und hier bot sich die Hochzeit mit einer Koreanerin an.
In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, dass die Migration die traditionellen Geschlechterrollen innerhalb der Community verändert hat. Wie meinen Sie das?
In Korea war die Geschlechterordnung klar zugunsten des Mannes, um nicht zu sagen patriarchalisch ausgerichtet. Frauen waren in der Regel nur bis zur Hochzeit berufstätig, nach der Heirat kümmern sie sich um ihre Familie. Bei den Koreanern in Deutschland war das anders: Hier mussten die Frauen arbeiten, sonst hätten sie und ihre Familien ihre Aufenthaltserlaubnis verloren. Die Migration nach Deutschland hat so – wenn auch erzwungenermaßen – ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern hervorgerufen, was übrigens auch dem Familienbild in der Aufnahmegesellschaft widersprach: Koreanische Familien waren zu 90 Prozent Doppelverdiener-Haushalte. Davon ist die deutsche Gesellschaft heute noch weit entfernt.
Im Vergleich zu den türkischen "Gastarbeitern" ist die Geschichte der koreanischen Migranten in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt. Warum?
Zunächst einmal waren sie zahlenmäßig nicht stark vertreten. Bis 1977 kamen rund 20.000 Menschen und von denen ist nur etwa ein Drittel geblieben. Durch die zweite und dritte Generation und neu Hinzugezogene ist die Community zwar wieder etwas gewachsen, im Vergleich zu anderen trotzdem sehr klein. Laut Statistischem Bundesamt leben heute rund 26.000 Koreaner in Deutschland. Mit Eingebürgerten sind es vermutlich zwischen 30.000 und 40.000. Hinzu kommt, dass Koreaner – wie viele andere Einwanderer aus dem asiatischen Raum auch – von der Mehrheitsgesellschaft meist nicht als solche erkannt, sondern lediglich der Gruppe der "Asiaten" zugeordnet werden.
Hängt es auch damit zusammen, dass die Koreaner – wie manche Experten behaupten – mehr unter sich gelebt haben?
Das würde ich so nicht sagen. Meiner Meinung nach steckt in dieser Aussage eine Art Vorwurf gegenüber der koreanischen Community: dass sie sich nicht genügend integriert, gar eine "Parallelgesellschaft" gebildet haben. Das sind nicht haltbare Thesen, die ein falsches Bild vermitteln. Tatsächlich haben Koreaner seit den 60er Jahren ein dichtes soziales Netzwerk aufgebaut und verfügen heute über eine sehr lebendige und gut organisierte Vereinslandschaft. Gerade das war notwendig für ihre Integration in die deutsche Gesellschaft.
Warum waren Vereine wichtig für die Integration?
Wenn sie sich am Wochenende nicht in Kirchengemeinden, koreanischen Schulen und Sportvereinen getroffen hätten, wo hätten sie denn dann sozial und mental Anschluss finden sollen? Dass sie in der deutschen Gesellschaft nicht unmittelbar Anschluss gefunden haben, ist nicht ihr eigenes Verschulden, sondern unter anderem der Mangel an Anerkennung und gesellschaftlichem Entgegenkommen. Insofern denke ich, diese Selbstorganisation sollte anerkannt und nicht verurteilt werden.
Ist die zweite Generation ähnlich gut organisiert wie die erste?
Mitte der 90er Jahre haben sie mit "Hangaram" ihren ersten eigenen Verein in Berlin gegründet. Der ist bis heute aktiv und hat inzwischen bundesweit über 200 Mitglieder. Fast gleichzeitig entstanden Vereine in Hamburg und Frankfurt am Main. 2007 folgte dann die Vereinsgründung von "Korientation" mit einer bewusst gesellschaftspolitischen Ausrichtung. Alle diese Organisationen sind übrigens offen für Mitglieder aller Nationalitäten.
Worin unterscheidet sich die zweite Generation noch von der ersten?
Die zweite Generation hat ein ganz anderes Selbstverständnis: Ihre Angehörigen verstehen sich als Mitglieder der deutschen Gesellschaft und wollen sich einbringen. Außerdem haben sie ein größeres Bewusstsein für Ungleichbehandlungen. Sie wollen Diskriminierungen nicht einfach hinnehmen, sondern fehlende Anerkennung einklagen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Minderheiten.
Die koreanische Gemeinde wird mitunter als Musterbeispiel für gelungene Integration bezeichnet. Ist das ein Klischee?
"Muster" beinhaltet etwas Normatives, das müsste man erst einmal definieren. Wenn man die klassischen Indikatoren von Integration betrachtet, also zum Beispiel binationale Ehen, Nachbarschaftsbeziehungen, Bildungsgrade oder Kriminalitätsraten, würden Koreaner sehr gut abschneiden. Schätzungsweise 70 Prozent sind "gut" integriert, und die Zahl ist meiner Meinung nach nicht ganz unrealistisch. In meiner Umgebung kenne ich zum Beispiel niemanden, der kein Abitur gemacht hat. Und so richtig verstecken kann man sich in der Community nicht. Meines Erachtens birgt der Begriff aber auch Gefahren.
Welche?
Wenn Koreaner als "Musterschüler" der Integration bezeichnet werden, dann oft unter dem Deckmantel einer politischen Instrumentalisierung. Instrumentalisierung, weil damit anderen Migrantengruppen vorgehalten wird: "Schaut, es gibt auch gelungene Integration! Das Gastarbeitersystem hat nicht nur 'Loser' produziert, sondern auch erfolgreiche Migranten hervorgebracht. Wenn ihr euch so anstrengen würdet wie die, dann würdet ihr es auch schaffen. Und wenn ihr es nicht schafft, liegt es offensichtlich an euch." Migrantengruppen werden so gegeneinander ausgespielt und hierarchisiert. Das finde ich sehr problematisch. Außerdem impliziert der Begriff, dass Anstrengung und gute Leistung automatisch zu Respekt und Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft führen. Aber auch "Musterschüler" leiden unter Diskriminierung und Ausgrenzung.
Interview: Hans-Hermann Kotte, Jennifer Pross
You Jae Lee ist Juniorprofessor für Koreanistik an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migrations- und Diasporaforschung. Er hat mehrere Projekte zur koreanischen Migrationsgeschichte geleitet und ist Mitglied verschiedener deutsch-koreanischer Vereine.
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