Ein Laternenumzug im hessischen Bad Homburg fand dieses Jahr unter Polizeischutz statt. Der Grund: Die Lokalzeitung hatte berichtet, die Kita habe den Martinsumzug "aus Rücksicht auf Mitglieder anderer Kulturkreise" zum Sonne-Mond-und-Sternefest umbenannt. Ein offizieller Sprecher verneinte die Erklärung, mit Säkularisierung habe das nichts zu tun. Doch die Meldung machte im Internet und in diversen Medien ihre Runde (Chronologie). Auf das vermeintliche Einknicken vor dem Islam folgten wütende Drohbriefe. Also brauchten die Kinder Schutz.
Die Idee der "kulturellen Rücksicht" scheint vielen eingängig: Rüdiger Sagel, Vorsitzender der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen, hat sich etwa dafür ausgesprochen, die Sankt-Martin-Feier grundsätzlich in "Sonne-Mond-und-Sternefest" umzubenennen. Kindertagesstätten sollten muslimischen Kindern den christlichen Glauben nicht aufdrängen, so Sagel.
Fast zeitgleich sorgt auch in Berlin eine vermeintliche Rücksichtnahme auf religiöse Befindlichkeiten für hitzige Debatten. Der stellvertretende Leiter der Volkshochschule (VHS) in Marzahn-Hellersdorf ließ laut Medienberichten Bilder von einer Flurwand abnehmen, "aus Rücksicht auf Muslime". Die Kritik war so vehement, dass die Bilder wieder aufgehängt wurden.
Der Mediendienst sprach mit Dr. Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung über die Wirkung solcher Diskussionen.
Frau Schiffer, wie bewerten Sie die aktuellen Fälle von "Rücksichtnahme" auf Muslime?
Das Phänomen würde ich mit einem Satz beschreiben, den die Rassismusforscher Regine und Gerd Riepe in ihrem Buch "Du schwarz, ich weiß" verwendet haben: Das Gegenteil von Gut ist gut gemeint. Wichtig ist in solchen Fällen, dass die Handlungen nicht als "Rücksichtnahme" oder "Gehorsam" bezeichnet werden. Denn es gibt hier keine Forderung von Seiten der Muslime, auf die Rücksicht genommen werden müsste.
Welche Folgen haben solche Debatten?
Sowohl die Handlungen der Akteure als auch die anschließenden Diskussionen sind mitunter problematisch. Man unterstellt Muslimen eine Inkompatibilität mit der Gesellschaft. Am Ende wirkt es so, als hätten Muslime tatsächlich gefordert, St. Martin abzuschaffen oder Aktbilder abzuhängen. Die Entchristianisierung wurde in diesen Fällen zwar nicht von Muslimen betrieben, wird aber als Kotau vor Muslimen interpretiert. Auch jenseits von islamfeindlichen Agitateuren schließt das nahtlos an das "kollektive Wissen" an, dass Muslime Probleme mit Kultur- und Meinungsfreiheit haben. Interessant ist hier ein historischer Blick auf die Ereignisse: Muslime aus der Türkei zum Beispiel leben seit über 50 Jahren in Deutschland. Trotzdem hatten wir bis vor einigen Jahren solche Debatten nicht. Da stellt sich die Frage, von wem das kommt.
Und von wem kommt das?
Es ist nur eine Vermutung, aber für die anlasslose Sorge könnten sogenannte interkulturelle Schulungen ein Auslöser sein. Manche dieser Trainings befördern eher das "Fremdmachen" und Unsicherheiten im Umgang mit Menschen aus vermeintlich anderen Kulturen. Dem VHS-Leiter war vermutlich nicht bewusst, dass er Vorurteile und Stereotype untermauert, die von rechtspopulistischen Scharfmachern wie "politically incorrect" aufgegriffen werden, die von einer islamischen Weltverschwörung ausgehen.
Woher kommt die Idee, Muslime vor dem Anblick von Aktbildern in öffentlichen Räumen schützen zu müssen?
Ich glaube, dass Debatten wie die um Kopftücher an Schulen hier eine Rolle spielen. Hier wird oft laizistisch argumentiert, obwohl wir ein säkularer Staat sind. Wie kommt eine Behörde zum Beispiel auf die Idee, Neujahrsgrüße verschicken zu müssen? Natürlich kann man mit Blick auf religiöse Vielfalt im Land darüber diskutieren, ob wir ein laizistischer Staat werden wollen. Aber bei den Debatten um die Abschaffung christlicher Symbole aus dem öffentlichen Raum liegt grundsätzlich ein Missverständnis vor. Eine falsch verstandene politische Korrektheit, möglicherweise auch Ängste durch die enge Verknüpfung von Religion und Gewalt in Politik und Medien.
Welche weiteren Fälle kennen Sie, in denen aus vermeintlicher Rücksicht Schaden entstanden ist?
Ein zentraler Fall war die Absetzung der Idomeneo-Oper 2006 in Berlin. Die Intendantin hat damals aus Vorsicht vor vermeintlich wütenden Muslimen eine Oper vom Programm genommen und das mit einer Warnung des Innensenators erklärt. Ob diese Warnung berechtigt war, ist bis heute nicht geklärt. Es hatte sich kein Muslim zu der Oper geäußert. Am Ende gab es lediglich eine Meldung aus der katholischen Szene, die sich über den geköpften Jesus beschwerte.
Solche Entscheidungen gehen zurück auf ein "Frame", wonach Muslime ein Problem mit Meinungs- und Kunstfreiheit hätten. Ein wichtiger Etablierer dieses Frames war der sogenannte Karikaturen-Streit. Den Grundstein dafür hatte 1989 die Fatwa zu Salman Rushdie gelegt, wonach er wegen Verunglimpfung des Propheten für vogelfrei erklärt wurde. Damals gab es wirklich einen Angriff auf die Kunst- und Meinungsfreiheit. Der Karikaturen-Streit dagegen entstand nicht 2005, als die Bilder veröffentlicht wurden. Die wurden sogar während des Ramadan in einer ägyptischen Zeitung gedruckt. Erst die gezielte Provokation durch die Jyllands-Posten und einen zwielichtigen Imam hat nach einem halben Jahr zu Unruhen geführt.
Welche Rolle spielen "die Medien" in dieser Debatte?
Ohne das untersucht zu haben, würde ich spontan sagen: Der Umgang der Medien ist inzwischen sachlicher als zu Zeiten von Idomeneo. Allerdings werden Muslime immer noch durch einzelne Formulierungen zu Verursachern der Debatte gemacht, als hätten sie tatsächlich etwas dazu beigetragen. Diese Zuweisung wird mitunter durch allgemeine Aussagen über den Islam und die Muslime befördert, wie etwa, dass es im Islam ein Bilderverbot gebe. Dabei wird diese Interpretation unter Muslimen sehr unterschiedlich ausgelegt und gehandhabt.
Interview: Ferda Ataman
Dr. Sabine Schiffer leitet das Institut für Medienverantwortung. Die Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin analysiert seit vielen Jahren das Islambild in den Medien und islamfeindlichen Blogs.
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