Seit 2005 erfasst das Statistische Bundesamt im Mikrozensus den „Migrationshintergrund“. Er ist eine wichtige Kategorie in Statistik und Forschung, etwa wenn es um die Teilhabe am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem geht. Seit Jahren mehrt sich die Kritik am „Migrationshintergrund“ aber: Die Erfassung sei sehr kompliziert, werfe zu viel durcheinander, bilde die Lebensrealitäten vieler Menschen nicht ab und sei stigmatisierend. Eine zentrale Kritik: Es gehe nicht wirklich um Migration. Viele Personen, die in der Statistik einen Migrationshintergrund haben, seien nicht zugewandert – und lebten teilweise schon in der dritten Generation in Deutschland.
Vergangenes Jahr hat die Fachkommission Integrationsfähigkeit vorgeschlagen, den Migrationshintergrund aufzugeben. Er solle ersetzt werden durch „Eingewanderte und ihre Nachkommen“. Das Statistische Bundesamt hat darauf jetzt reagiert. Es führt dafür eine neue Kategorie ein. In Zukunft fallen darunter:
- Personen, die selbst zugewandert sind
- Personen, deren Eltern beide zugewandert sind
Wie unterscheiden sich „Eingewanderte und ihre Nachkommen“ und „Personen mit Migrationshintergrund“?
- Migration ausschlaggebend: Beim „Migrationshintergrund“ geht es darum, ob die Person oder mindestens ein Elternteil mit ausländischer Staatsbürgerschaft geboren wurde oder nicht – das heißt, die Nationalität ist ausschlaggebend. Bei „Eingewanderte und ihren Nachkommen“ geht es darum, ob die Person selbst oder beide Eltern eingewandert sind. Wichtig ist also, ob sie Erfahrungen mit Migration gemacht haben. Wenn etwa ein Kind, dessen Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden, im Ausland auf die Welt kommt und dann nach Deutschland einwandert, fällt es unter „Eingewanderte und ihre Nachkommen“, aber nicht unter „Migrationshintergrund". Laut dem Soziologen Coskun Canan vom Statistischen Bundesamt werden Rückkehrer*innen nicht mitgezählt: Also etwa eine Person, die in Deutschland geboren wurde und 20 Jahre in Portugal gelebt hat, und dann nach Deutschland zurückkehrt.
- Keine „einseitige“ Migrationserfahrung: Die sogenannte einseitige Migrationserfahrung fällt weg. Das heißt, Personen tauchen nur in der Statistik auf, wenn sie selbst oder beide Eltern zugewandert sind. Das war auch der Vorschlag der Kommission Integrationsfähigkeit. Die Begründung: Statistisch gesehen machen Menschen mit nur einem zugewanderten Elternteil ähnliche Erfahrungen wie Personen, deren Eltern beide aus Deutschland kommen – etwa wenn es um die Unterstützung für die Schule geht.
- Dritte Generation fällt raus: Beim „Migrationshintergrund“ war es möglich, dass auch die dritte Generation einen Migrationshintergrund hat. Also wenn Eltern in Deutschland mit ausländischer Staatsangehörigkeit geboren wurden, hatten auch die Kinder einen Migrationshintergrund, obwohl die Eltern nicht selbst zugewandert waren. Das ist in der neuen Definition „Eingewanderte und ihre Nachkommen“ nicht der Fall.
- Einfachheit: Die neue Definition ist deutlich klarer und kompakter als der „Migrationshintergrund“. Um den zu erheben, werden im Mikrozensus 19 Fragen genutzt.
- International anschlussfähig: Laut Statistischem Bundesamt arbeiten auch andere Länder mit ähnlichen Definitionen. Damit seien die Daten international vergleichbar.
Um wie viele Personen geht es?
In einem Interview erklärte die Sozialanthropologin Anne-Kathrin Will: Der Mikrozensus zählte 2018 rund 20,8 Millionen Menschen mit „Migrationshintergrund“. Rechnet man die 2,99 Millionen Personen heraus, die nur einen eingewanderten Elternteil haben und die 119.000 Personen dazu, die mit deutschem Pass im Ausland geboren sind, kommt man auf 18,1 Millionen Eingewanderte und ihre Nachkommen.
Werden Fragen zu Diskriminierungserfahrungen erhoben?
Nein. Zwar ist eine Kritik am „Migrationshintergrund“, dass er Diskriminierungserfahrungen nicht abgedeckt: Denn Personen, die Rassismus erfahren, fallen nicht immer auch unter die Kategorie des Migrationshintergrundes. Eine Möglichkeit wäre, die Selbstidentifikation der Befragten abzufragen. Aktuell ist dies laut Canan nicht geplant, wird jedoch auch im Bundesamt weiter diskutiert. Für solche Daten muss aktuell auf andere Erhebungen zurückgegriffen werden, wie der Afrozensus, der die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland abfragte.
Werden zusätzliche Daten erhoben?
Das Statistische Bundesamt wird vorerst keine zusätzlichen Daten zum Thema im Mikrozensus erheben. Mit den bisherigen Fragen, die im Rahmen des Mikrozensus gestellt werden, erhält es nahezu alle Daten, die es für die neue Kategorie braucht. Jedoch wird es eine neue gesonderte Publikation zu „Eingewanderten und ihren Nachkommen“ geben. Die erste Veröffentlichung wird laut Bundesamt voraussichtlich Anfang 2023 erscheinen und sich auf das Jahr 2021 beziehen. Auch die Rückrechnung in Form einer Zeitreihe ist geplant – es müsse jedoch noch geprüft werden, für welche Jahre dies möglich ist.
Wird der Migrationshintergrund jetzt abgeschafft?
Zumindest nicht demnächst. Ganz ersetzt – wie von der Fachkommission Integrationsfähigkeit empfohlen – wird der Migrationshintergrund zunächst nicht: Laut Statistischem Bundesamt sei es wichtig, die Kategorie weiterzuführen, damit man Entwicklungen über die Jahre weiter beobachten könne. Die zentrale Publikation „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ wird es in ähnlicher Form weiter geben.
Dadurch entsteht zunächst eine Parallelstruktur. Nach einer Testphase von ein oder mehreren Jahren wird das Bundesamt die Änderungen auswerten und sehen, ob es weiterhin eine Doppelstruktur gibt, oder nur eine der Kategorien weitergeführt wird, so Canan.
Wichtige Quellen
Fachkommission Integrationsfähigkeit (2021): "Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten" // LINK
Statistisches Bundesamt (2021): "Bevölkerung mit Migrationshintergrund" // LINK
Mediendienst (2021): "'Migrationshintergrund', einfach erklärt" // LINK
Anne-Kathrin Will (2018): "Wer hat einen "Migrationshintergrund"?" – Expertise für den Mediendienst // LINK
Interview mit Anne-Kathrin Will (2021): "Wird der Migrationshintergrund jetzt abgeschafft?" // LINK
Von Andrea Pürckhauer
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