Seit dem 18. Dezember hat Aydan Özoğuz ihr Büro im Bundeskanzleramt als neue Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Damit besetzt erstmals eine Politikerin mit Migrationshintergrund diesen Posten. Özoğuz ist 1967 als Kind türkischer Kaufleute in Hamburg geboren. In ihrer ersten Pressemitteilung zum Tag der Migranten fordert sie, "eine Kultur der zweiten Chance" zu etablieren. "Wir brauchen Regeln, aber auch faire Chancen." Zu ihrer Ernennung erklärt Özoğuz in der Taz: „Dass es möglich ist, mit meinem Namen bis ins Kabinett aufzusteigen, sollte andere ermuntern, dass wir alle miteinander gefordert sind, diese Einwanderungsgesellschaft zu gestalten."
Einige Wissenschaftler halten ihre Ernennung für eine Zäsur. "Anliegen von Eingewanderten und Migrantenpolitik müssen zwar nicht unbedingt durch Personen vertreten werden, die selbst oder deren Eltern Migrationserfahrungen haben", sagt etwa Karen Schönwälder, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Die Beauftragte der Bundesregierung aber ist eine Art Ombudsperson. Dass eine solche Rolle von nicht-Migranten eingenommen wurde, war schon immer so deplatziert wie ein männlicher Frauenbeauftragter."
Schönwälder hofft auf "eine Neuerfindung des Amtes": Auch wenn Özoğuz’ Stelle keine gesetzgeberischen Kompetenzen und nur beschränkte Mittel habe, könne sie "eine wichtige symbolische Rolle einnehmen, indem sie Themen auf die Agenda setzt, ihnen Gehör verschafft und Druck macht, dass sie in die Regierungsarbeit einfließen."
Thomas Saalfeld, Politikwissenschaftler an der Universität Bamberg, hält die Personalie zwar nicht für einen Wendepunkt. "Allerdings ist die Ernennung ein Zeichen an die in Deutschland lebenden Minderheiten, dass sich in der Regierung eine Fürsprecherin befindet, die die Belange von Einwanderern und ihren Nachfahren aus persönlicher Erfahrung kennt." Darüber hinaus hole Deutschland gegenüber Frankreich, Großbritannien und anderen europäischen Ländern auf, wo in den letzten Jahren immer wieder Personen mit ethnischem Minderheitshintergrund Ministerämter bekleideten – nicht nur für Migrationsfragen.
Die politische Beteiligung von Menschen aus Einwandererfamilien steigt
Saalfeld, der zur politischen Beteiligung von Migranten forscht, fügt hinzu: Ob die Ernennung von Politikern mit Migrationsgeschichte zu mehr politischer Beteiligung von Bürgern aus Einwandererfamilien führt, bleibe abzuwarten. In Deutschland gäbe es zu dieser Frage nicht viel belastbare Forschung. Anhaltspunkte bieten jedoch Untersuchungen aus den USA: "Dort hat die Aufstellung von Kandidaten mit Minderheitshintergrund einigen Studien zufolge zu größerer Zufriedenheit der Minderheiten mit dem politischen System der USA beigetragen."
Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil (20 Prozent) sind Menschen aus Einwandererfamilien sowohl im Bundestag als auch in den Kommunalparlamenten noch deutlich unterrepräsentiert. Eine Recherche des Mediendienstes zur Bundestagswahl 2013 stellte zuletzt heraus: Im Parlament sitzen 37 Abgeordnete mit Migrationshintergrund, einige davon mit eigener Migrationserfahrung. Im Verhältnis zu allen 631 Abgeordneten stammen somit knapp sechs Prozent aus Einwandererfamilien. In der vorherigen Legislaturperiode waren es hingegen nur 21 Abgeordnete (3,4 Prozent).
Ein ähnliches Bild ergibt sich auf kommunaler Ebene. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung haben nur 4 Prozent der Ratsmitglieder in Deutschland einen Migrationshintergrund. Wobei die interkulturelle Öffnung der Parteien auf kommunaler Ebene auch hier unterschiedlich weit ist. Deutlich macht die Untersuchung aber auch: Die Anzahl der Abgeordneten auf kommunaler Ebene ist in den letzten Jahren um rund 70 Prozent gestiegen.
Ein Blick auf die Herkunft der politisch Engagierten zeigt laut einer Studie des Max-Planck-Instituts, dass die meisten Politiker aus der Türkei stammen oder türkische Eltern haben. In 2009 waren demnach 20 von 39 Landtagsabgeordneten sowie 43 von 79 Ratsmitgliedern in den Großstädten Nordrhein-Westfalens türkeistämmig.
Im europäischen Vergleich
In Ländern wie den Niederlanden, Frankreich und Belgien zeigen sich auf kommunaler Ebene ähnliche Tendenzen wie in Deutschland. In den Niederlanden etwa lag der Anteil der Einwanderer(kinder) nach den Wahlen 2006 bei 10 Prozent. Die Anzahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund stieg auch hier in den lokalen Parlamenten zwischen 1994 und 2006 deutlich an – von 73 auf mehr als 300. Im Verhältnis zu allen Mitgliedern in kommunalen Parlamenten entspricht das jedoch nur drei Prozent.
In Frankreich haben nach einer Studie 5,3 Prozent der Abgeordneten in den kommunalen Räten einen Migrationshintergrund, wobei hier wie in Deutschland von Region zu Region starke Unterschiede auftreten. Der Anteil von Migranten im französischen Parlament war nach den Wahlen 2007 deutlich geringer und lag bei 0,5 Prozent.
Von Ferda Ataman, Lea Hoffmann und Sabine Netz
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