Mehr als 400 Menschen aus Deutschland, so schätzen die Sicherheitsbehörden, halten sich derzeit in Syrien und im Irak auf und sind Kämpfer der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS). Nicht alle kommen aus Einwandererfamilien. Zehn Prozent seien nach Angaben des Verfassungsschutzes Konvertiten. Entsprechend groß ist die Verunsicherung in Deutschland. Die Berichte über junge Männer aus Deutschland, Österreich oder Großbritannien, die sich freiwillig für bestialische Kriegshandlungen melden, werfen viele Fragen auf: Wie konnten sich diese junge Menschen inmitten der Gesellschaft so stark radikalisieren? Wieso sind einige Jugendliche anfällig für extremistisch-islamistische Ideologien? Wie kann man dem vorbeugen, aber auch denen helfen, die sich davon lösen wollen?
In Deutschland ist das Feld der sogenannten Islamismus-Prävention noch sehr jung. Zwischen 2010 und 2013 hat das Bundesfamilienministerium 40 Modellprojekte gegen Extremismus gefördert, davon 22 gegen "islamistischen Extremismus". Im Juli 2014 hat das Ministerium den Abschlussbericht der "Initiative Demokratie stärken" veröffentlicht.
Die Projekte, die im Bereich "Islamistischer Extremismus" gefördert wurden, verfolgten demnach sehr unterschiedliche Ansätze: Etwa ein Drittel konzentrierte sich vor allem auf Forschung und Wissensvermittlung im Bereich des radikalen Islamismus. Dazu zählten zum Beispiel Untersuchungen über die Internetpräsenz militanter islamistischer Organisationen sowie Veranstaltungen und Workshops für Jugendliche, um sie zu "Botschaftern der Demokratisierung und Aufklärung" zu machen.
Wie erreicht man Jugendliche, die abzudriften drohen?
Andere Projekte, wie die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) oder ufuq.de, gehen an Schulen und geben Workshops für Schüler, Lehrer und andere. "In den Schulklassen findet sich ein Querschnitt muslimisch sozialisierter Schüler, darunter findet man aber nur selten welche, die die Religion ideologisch auslegen", so Aycan Demirel, Leiter der KIgA.
Die Pädagogen betonen, wie wichtig der Zeitpunkt ist, denn gerade die Pubertät ist für Jugendliche – mit oder ohne konkreten Gefährdungsmoment – geprägt von Fragen zur eigenen Identität: Bin ich Deutscher oder Muslim? (Wie) kann ich beides verbinden? Warum soll ich mich immer wieder von radikalen Muslimen distanzieren? Was habe ich damit zu tun? "Diese Fragen werden ja auch immer wieder von außen an die Jugendlichen herangetragen. Die radikalen Islamisten haben darauf eine vermeintliche Antwort: Sie bieten ein einfaches Weltbild mit klaren Regeln, das in schwarz und weiß, gut und böse aufgeteilt ist. Zudem suggerieren sie ein Gefühl der Gemeinschaft und Zugehörigkeit". Und dafür sind nicht nur muslimische Jugendliche anfällig.
Die Mitarbeiter solcher Projekte sind bemüht, junge Menschen bei diesen Suchprozessen zu unterstützen, ihnen zu helfen, eine eigene Haltungen zu entwickeln. Konsens ist, dass das nur gelingen kann, wenn man sie in ihren sozialen, kulturellen und biografischen Bezügen abholt. "Es ist wichtig, sich mit ihrer Wahrnehmung eines steigenden antimuslimischen Rassismus und der negativen Berichterstattung über Muslime in den Medien auseinanderzusetzen. Zu unserem Konzept gehört auch, dass sie Menschen kennenlernen, die ähnliche biografische Bezüge haben wie sie selbst und ihre muslimische Identität in Einklang mit einer pluralistischen Gesellschaft ausleben", so Demirel.
Weiterfinanzierung der Projekte unklar
Nur einige der vom Familienministerium geförderten Projektträger konnten bereits auf längere Erfahrungen in der Präventionsarbeit zurückgreifen. Neben KIgA und ufuq.de zählt dazu die Initiative Schule ohne Rassismus. Diese war mit ihrem Projekt "Islam und ich" beteiligt, dass Schüler und Lehrer darüber informiert, wie der radikale Islamismus in Deutschland auftritt und bereits bei Kindern und Jugendlichen wirbt. Auch das Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) arbeitet schon lange im Feld. Dessen Projekt "Demokratie stärken – Auseinandersetzung mit Islamismus und Ultranationalismus" spricht soziale und politische Akteure wie Kommunen, Polizei und muslimische Organisationen an und bietet Aufklärung und Informationen. Das ZDK betreibt darüber hinaus die Beratungsstelle Hayat für gefährdete Jugendliche und ihre Angehörigen.
Doch auch wenn der Bundesinnenminister und der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz 2014 erneut vor einem wachsenden Islamismuspotenzial warnten: Einige der für ihre Arbeit ausgezeichneten Projekte waren Anfang des Jahres in eine Finanzierungslücke geraten und mussten ihre Arbeit einstellen oder sich durch Spenden weiterfinanzieren, da die staatliche Förderung Ende 2013 ausgelaufen war. Durch den Regierungswechsel gab es kein direkt anschließendes Förderprogramm, die Haushaltsmittel mussten erst diskutiert werden.
Betroffen war unter anderem die "Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus" der ZDK. Auch das Projekt MAXIME Berlin, das Jugendlichen Anti-Gewalt und Kompetenztraining-Kurse anbietet, hat nur dank der Beteiligung einer privaten Stiftung seine Arbeit fortsetzen können. Das IKRAM-Projekt der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) und die Initiative "Islam, Islamismus & Demokratie" des Vereins ufuq.de konnten ihre Arbeit vorerst nicht fortführen.Quelle
Inzwischen hat das Familienministerium bekannt gegeben, dass es mit dem Programm "Demokratie leben!" ab Januar 2015 insgesamt 30,5 Millionen Euro für Projekte gegen "Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit" bereitstellen will. Für Modellprojekte sind insgesamt sechs Millionen Euro vorgesehen. Nur eine Teilsumme davon soll jedoch für "Radikalisierungsprävention" verwendet werden. Zudem sollen aus diesem Topf nicht nur "radikale und demokratie- bzw. rechtsstaatlichkeitsfeindliche Formen des Islam" sondern auch die Bereiche Rechtsextremismus, Ethnozentrismus, Ultranationalismus und Linksextremismus abgedeckt werden. Die Richtlinien sollen in Kürze veröffentlicht werden. Insgesamt werden weniger Projekte gefördert, dafür werden diese aber besser und länger ausgestattet, nämlich bis zu fünf anstatt wie bisher drei Jahre.Quelle
Zahl der Kontaktaufnahmen bei Beratungsstellen steigt
Viele Projekte gegen Radikalisierung entstehen inzwischen auch auf kommunaler oder regionaler Ebene. Dazu gehört zum Beispiel das Projekt 180 Grad Wende, das von der Stadt Köln und vom Bundesinnenministerium mitfinanziert wurde. Ebenfalls in Nordrhein-Westfalen ist kürzlich das Präventionsprogramm "Wegweiser" entstanden: eine Initiative gegen gewaltbereiten Salafismus des Verfassungsschutzes NRW.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat 2012 die "Beratungsstelle Radikalisierung" eingerichtet, eine Hotline und erste Hilfe für Menschen, die bei Angehörigen oder in ihrem Umfeld extremistische Tendenzen erkennen. Seitdem die Hotline freigeschaltet wurde, ist die Zahl der Kontakte rasant gestiegen: Im ersten Jahr gab es etwa 300 Beratungsfälle, 2013 bereits doppelt so viele. Aktuell gehen in der Beratungsstelle fast täglich neue Fälle ein, wie ein Sprecher des BAMF auf Anfrage erklärt.
Diskutiert wird noch, wie mehr Moscheegemeinden einbezogen werden können. Auch das Familienministerium weiß um diese Schwierigkeit. So heißt es im Abschlussbericht: "Ein Teil der muslimischen Communities [formuliert] hinsichtlich [staatlich geförderter] Präventionsaktivitäten gegen 'islamistischen Extremismus' eine grundlegende Skepsis. Es bestand und besteht vor allem die Angst, dass Menschen mit muslimischem Glauben durch das Auflegen eines öffentlichkeitswirksamen, auf islamistischen Extremismus konzentrierten Präventionsprogramms (zusätzlich) stigmatisiert würden."
"Projekte gegen Radikalisierung haben nur dann Erfolg, wenn es ihnen gelingt, Menschen aus den Communities zu mobilisieren", sagt Werner Schiffauer, Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Viadrina. Nach Schiffauer müssten auch diejenigen Verbände und Moscheevereine eingebunden werden, die selbst vom Verfassungsschutz beobachtet werden, sofern der Verdacht sich bislang nicht erhärtet habe.
Von Fabio Ghelli
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