Herr Uslucan, Ihre Dissertation trägt den Titel „Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit“. Was hat Staatsangehörigkeit mit Menschenrechten zu tun?
Das ist eines der wichtigsten Rechte überhaupt. Jedes Recht gilt gegenüber einem Staat. Man muss daher Mitglied einer Gesellschaft sein, um die dort verbürgten Rechte umfassend nutzen zu können. Artikel 15 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung besagt, dass jeder Mensch eine Staatsangehörigkeit haben soll. Das wurde dann für viele Staaten in Artikel 25 des Zivilpakts auch umgesetzt. Das Menschenrecht auf Staatsangehörigkeit gilt bislang nur für Staatenlose, welche ihre Staatsangehörigkeit im Zuge von Gebietsneuregelungen nach dem Zweiten Weltkrieg verloren haben, oft gegen ihren Willen.
Ich habe die Staatsangehörigkeitsregelungen westeuropäischer Staaten mit relevantem Migrationsgeschehen genauer untersucht und dann miteinander verglichen, um herauszufinden, ob sich ein sogenanntes „regionales Recht auf Einbürgerung – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit“ entwickelt.
Wir sind wohl auf dem Weg dahin, denn mehrere Staaten praktizieren seit einiger Zeit eine sogenannte „Anspruchseinbürgerung“, das heißt, bei Vorliegen der Voraussetzungen hat der Bewerber ein einklagbares Recht auf Einbürgerung und die Behörde kann sie nicht mehr versagen. In Deutschland hat man seit 1993 unter bestimmten Voraussetzungen so einen Anspruch. Das gilt selbst in so restriktiven Staaten wie Österreich oder der Schweiz und in eher liberalen Staaten wie den Niederlanden und Belgien. Insgesamt ist ein interessanter Trend in Europa zu beobachten: Die Regelungen für Neuankömmlinge werden immer strenger, die für alteingesessene Ausländer immer besser.
Was bedeutet das für die Mehrstaatigkeit? Wann werden Doppelstaater akzeptiert?
Auf Völkerrechtsebene wurde 1930 im Haager Übereinkommen festgehalten, dass man Mehrstaatigkeit verhindern müsse, weil sie zu Konflikten führen können. 1963 wurde das im sogenannten Mehrstaaterübereinkommen zur Reduzierung der Mehrstaatigkeit noch einmal auf der Ebene des Europarats bekräftigt und umgesetzt. Das Ziel war aber von Anfang an nicht umsetzbar. Das lag vornehmlich daran, dass zum einen die wichtigsten Anwerbestaaten wie die Türkei oder Ex-Jugoslawien nicht Vertragspartner waren. Zum anderen galt und gilt die völkerrechtliche Gleichheit der Staaten, wonach das Abstammungsprinzip immer seine Geltung beansprucht. In Fällen von bi-nationalen Ehen resultiert daraus stets eine völkerrechtlich nicht verhinderbare Mehrstaatigkeit. Es gibt noch weitere Gründe für Ausnahmen. Im Ergebnis wird in Deutschland bei mehr als der Hälfte der Einbürgerungen die Mehrstaatigkeit am Ende akzeptiert.
Wie sieht es im internationalen Vergleich aus?
Seit 1977 gibt es auf der Ebene des Europarates starke Bestrebungen wie auch Forderungen gegenüber den Mitgliedsstaaten, von diesem Vermeidungsprinzip abzusehen, und zwar vor allem im Interesse der Integration der Jugendlichen, die im Inland geboren oder dort sozialisiert sind. Was übrigens viele nicht wissen: Deutschland hat 2005 das Mehrstaatenübereinkommen gekündigt. Das politisches Signal nach Außen lautet seither: Das Vermeidungsprinzip ist für uns im nationalen Staatsangehörigkeitsrecht eigentlich kein Grundsatz mehr. Dieses Umdenken ist aber im Inland noch nicht bei allen angekommen, was uns übrigens beim Wettbewerb um die schlausten Köpfe schadet. Schließlich ist ein garantierter Anspruch auf die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Zuwanderungslandes ein wichtiges Kriterium für die „high potentials“, die bislang Deutschland – aus bekannten Gründen – noch meiden.
Was sagen Sie zu dem Einwand, doppelte Staatsangehörigkeit bringt in Fällen von Kriminalität Probleme mit sich, wie etwa im Fall des mutmaßlichen Straftäters Onur U., der sich in die Türkei abgesetzt hat?
Zunächst sind generelle rechtliche Einwände gegen die Mehrstaatigkeit hinfällig, weil die damit verbundenen Konfliktsituationen in den allermeisten Fällen rechtlich geregelt sind. Die hier vorgebrachten Probleme sind nahezu vollständig gelöst, wie etwa im Zusammenhang mit dem Sorgerecht bei Ehescheidungen, der Wehrpflicht, die in Deutschland seit 2010 ohnehin abgeschafft ist, oder ganz allgemein im Internationalen Privatrecht. Die verbliebenen Randbereiche sind ohne weiteres vertraglich regelbar.
Was kriminelle Ausländer angeht, die eingebürgert werden wollen, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass eine Einbürgerung nahezu ausgeschlossen ist, wenn die Person zu einer Strafe von über 90 Tagessätzen verurteilt wurde. Dann hängt die Auslieferung nicht so sehr von der Staatsangehörigkeit ab, sondern es gibt hier zahlreiche Auslieferungsabkommen, ganz prominent zwischen den EU-Staaten. Im konkreten Fall wäre der Delinquent auch dann wohl nicht ausgeliefert worden, wenn er eben nicht eingebürgert worden wäre, die Mehrstaatigkeit spielt in diesem Zusammenhang weniger eine Rolle.
Sie sprechen in Ihrem Buch von einem hohen bürokratischen und emotionalen Aufwand. Was meinen Sie mit Letzterem?
Viele Einwandererkinder haben noch persönliche und emotionale Bindungen an das Land ihrer Eltern. Das geht vielen Deutschen im Ausland im Übrigen ähnlich. Gleichzeitig ist Vieles in der Diskussion irrational: Optionskinder, die ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgeben, um Deutsche zu bleiben, könnten jederzeit nachträglich wieder eingebürgert werden, wenn sie wieder in die Türkei kehren. Umgekehrt haben hier lebende Drittstaatenangehörige mit einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis – abgesehen vom Wahlrecht – fast die gleichen Rechte und sind besonders geschützt. Wir diskutieren hier also um des Kaisers Bart.
Auf dieser Linie der Diskussionen, wie sie aktuell wieder geführt werden, hat man als Kenner der Materie leider oftmals den Eindruck, dass nur vorgeschobene Gründe, die bisweilen hanebüchen sind, den Ausschlag dafür geben, warum vor allem „konservative Kreise“ sich so vehement gegen die großzügigere Zulassung von Mehrstaatigkeit wehren. Denn im Kern hat man bisweilen den Eindruck, es geht um die Verhinderung der Einbürgerung von bestimmten Volksgruppen an sich, was völkerrechtlich ein Verstoß gegen entsprechende völkerrechtliche Abkommen darstellt.
Ich bin der Auffassung, Mehrstaatigkeit sollte hingenommen werden, solange die Migrationserfahrung noch fortwährt, also bis zu vierten Generation etwa. Danach legen auch viele Mehrstaater freiwillig ihre andere heimatstaatliche Staatsangehörigkeit wieder ab.
Dr. Şükrü Uslucan, LL.M. (Columbia) ist Wissenschaftler und arbeitet daneben als Rechtsanwalt im Bereich Verwaltungs-, Verfassungs- und Ausländerrecht in Berlin. Er ist Berater der türkischen Regierung in Staatsbürgerschaftsfragen und war als Experte für den Sachverständigenrat für Zuwanderung tätig. 2012 erschien seine Dissertation „Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit - Deutet sich in Europa ein migrationsbedingtes Recht auf Staatsangehörigkeit an – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit?“.
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