Die große Koalition streitet erneut über Selbstverständnisse im Einwanderungsland. Diesmal geht es um die Einführung eines Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige. Die Einen sagen: Menschen die in Deutschland wohnen, arbeiten und Steuern zahlen, sollen Entscheidungen beeinflussen können, die sie direkt betreffen. So zum Beispiel die Integrationsbeauftragte des Bundes, Aydan Özoğuz, die die Debatte mit einer entsprechenden Forderung in der Zeitung Die Welt angestoßen hat. Andere, wie der Bundesinnenminister Thomas de Maizière, erwidern: Sollten Ausländer auch noch wählen dürfen, hätten sie keine Motivation mehr, vollwertige deutsche Staatsbürger zu werden.
Die Auseinandersetzung ist im Grunde nicht neu. Seit 1992 dürfen Ausländer mit einer EU-Staatsangehörigkeit an Kommunalwahlen teilnehmen. Um das zu ermöglichen musste der Bundestag das Grundgesetz ändern. Im Fall von Drittstaatsangehörigen gibt es dafür weiterhin große Hürden: Erst vor zwei Monaten scheiterte ein entsprechendes Gesetz der Bremer Bürgerschaft an den Einwänden des Staatsgerichtshofs. So gehört Deutschland weiterhin zu einer Minderheit der europäischen Länder, in denen "Drittstaatler" keine Stimme haben.
Dabei wird de facto bei jeder Kommunalwahl ein beachtenswertes Wählerpotential ignoriert. Nach Berechnungen des Mediendienstes leben in Frankfurt am Main 15 Prozent, in Stuttgart 13 Prozent, in München 12 Prozent, in Köln 11 Prozent, in Hamburg und Berlin rund 10 Prozent volljährige Bürger, die von politischen Entscheidungen in der Nachbarschaft ausgeschlossen sind. Die Daten sind besonders für Großstadt-Räume relevant, wo sich viele Ausländer konzentrieren, die nach deutschem Recht nicht wählen dürfen.
Ein Blick auf den Anteil von Drittstaatsangehörigen in den Bundesländern zeigt einen ähnlichen Trend: In den alten Bundesländern liegt das verschenkte Wählerpotential fast überall zwischen sieben und acht Prozent (zur Tabelle) der volljährigen Bürger.
Die Initiative "Wahlrecht für alle" engagiert sich seit 2011 für eine möglichst breite demokratische Partizipation in der Hauptstadt. Hier wird am 25. Mai ein Volksentscheid stattfinden, an dem ausschließlich deutsche Staatsbürger teilnehmen dürfen – EU-Bürger und andere Ausländer sind ausgeschlossen. So können am Sonntag knapp 500.000 Bürger nicht mitentscheiden, wenn in Berlin über die Nutzung des Tempelhofer Feldes abgestimmt wird. Am 24. Mai, einen Tag vor der Abstimmung organisiert das Bündnis einen Aktionstag, an dem alle Ausländer symbolisch ihre Stimme abgeben können.
"In der globalisierten Welt gibt es immer mehr Menschen, die von politischen Entscheidungen ausgeschlossen sind", sagt Julia Mi-ri Lehmann von Citizens for Europe, die sich im Bündnis engagiert. "Wir fordern daher unabhängig vom Pass Partizipationsmöglichkeiten für alle, wie etwa bei Volksentscheiden und Wahlen vor Ort. Teilhaberechte sind unabdingbar für eine funktionierende Demokratie."
Von Fabio Ghelli und Jakob Roßa
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