MEDIENDIENST: Heute vor einem Jahr war der Volksentscheid „gegen Masseneinwanderung“ überraschend erfolgreich. Dabei ging es darum, eine staatlich festgesetzte Einwanderungsquote einzuführen. Die Europäische Union kritisierte, das verstoße gegen das Prinzip des freien Personenverkers. Was passiert jetzt?
WALTER LEIMGRUBER: Die Schweizer Regierung hat noch zwei Jahre Zeit, um das Ergebnis des Volksentscheids mit einer Gesetzesvorlage konkret umzusetzen. Das klingt nach viel Zeit, ist es allerdings nicht. Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob die Eidgenossenschaft und die EU einen Kompromiss in diesem Punkt erzielen können: Die Idee, Einwanderung durch ein Kontingent-System zu regulieren, verstößt gegen das Freizügigkeits-Prinzip, das in den bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union festgelegt ist.
Ist ein Kompromiss also völlig undenkbar?
Nein. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass es am Ende zu einem Kompromiss kommt. Denn es gibt bereits Fälle, wo eine Einschränkung der Freizügigkeit von der EU genehmigt wurde. 2011 hat die EU zum Beispiel Spanien erlaubt, durch eine sogenannte „Schutzklausel“ den Zugang von rumänischen Zuwanderern auf den Arbeitsmarkt einzuschränken.
Welche Auswirkungen hätte ein derartiger Kompromiss für die Einwanderungspolitik der EU?
Sollten sich die EU und die Schweiz am Ende über eine Einschränkung der Freizügigkeit einigen, ist es durchaus denkbar, dass sich einige politische Kräfte in anderen europäischen Ländern auf diesen Präzedenzfall berufen, um eine Zuwanderungsbegrenzung zu fordern. Denn die EU kann der Schweiz nicht Sonderrechte einräumen, die sie den Mitgliedstaaten vorenthält. Dabei muss man allerdings sagen: Eine Schutzklausel würde nur dann Anwendung finden, wenn – wie im Fall Spaniens – besondere Umstände gegeben sind, wie zum Beispiel eine hohe Arbeitslosigkeit.
In der Schweiz liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 3,4 Prozent, also weit unter dem europäischen Durchschnitt...
Genau. Deshalb ist es fraglich, ob die Europäische Union zurzeit die Einführung einer „Schutzklausel“ in der Schweiz gutheißen kann. Ich persönlich bin da sehr skeptisch.
Im Moment prüft das Schweizer Bundesgericht, ob der Volksentscheid durch rassistische und hetzerische Propaganda beeinflusst wurde. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat für die Initiative „Kosovaren schlitzen Schweizer auf!“ geworben. Könnte das dazu führen, dass der Volksentscheid für nichtig erklärt wird?
Prof. Dr. WALTER LEIMGRUBER ist Professor und Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel sowie Präsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen. 2014 war er Mitglied der Expertengruppe des Bundesrates zur Umsetzung des Volksentscheids gegen Masseneinwanderung.
Das glaube ich eher nicht. Die Parolen der SVP waren zwar höchst problematisch und es ist wahrscheinlich, dass sie dafür verurteilt wird. Doch es ist kaum denkbar, dass das Bundesgericht das Ergebnis eines Volksentscheids aus diesem Grund in Frage stellt.
Heißt das, dass die Schweiz den Volksentscheid auf jeden Fall umsetzen wird, selbst wenn das zum Bruch mit der EU führt?
Nicht unbedingt. Ein Vorteil des direktdemokratischen Systems ist, dass man die Bevölkerung immer wieder befragen kann. Eine Möglichkeit ist also eine neue Initiative, die den am 9. Februar 2014 angenommenen Volksentscheid wieder aufhebt. Das wäre eine Abstimmung im Sinne von: „Wollt ihr, dass der Volksentscheid gegen Masseneinwanderung umgesetzt wird, selbst wenn das bedeuten soll, dass die Schweiz die bilateralen Abkommen mit der EU kündigt?“ Die zweite Möglichkeit ist ein Referendum gegen die konkrete Gesetzesvorlage, mit der die "Initiative gegen die Masseneinwanderung" umgesetzt werden soll. Damit könnte man die Weichen für eine Umsetzung stellen, die dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU nicht widerspricht. Wenn man bedenkt, dass die Befürworter des Volksentscheids vor einem Jahr um knappe 0,3 Prozentpunkte gewonnen haben, kann man davon ausgehen, dass das Ergebnis diesmal in eine andere Richtung gehen würde.
Im Dezember ist die Initiative der Umweltorganisation „Ecopop“ gescheitert, mit der die Zuwanderungsquote auf 0,2 Prozent der Bevölkerung reduziert werden sollte. Ist das ein Zeichen für ein Umdenken in der Schweiz?
Ich glaube, dass der Erfolg der Initiative gegen Masseneinwanderung viele aufgeschreckt hat. Denn bei anderen Abstimmungen zum Thema Einwanderung, wie zum Beispiel über den Bau von Minaretten, handelte es sich um symbolische Initiativen. Diesmal wurde eine Entscheidung getroffen, die die Mehrheitsgesellschaft stark betrifft: Arbeitsplätze fallen weg, internationale Verträge stehen auf der Kippe. Zudem muss man sagen, dass die Ecopop-Initiative viel restriktivere Maßnahmen beinhaltete als der Volksentscheid vor einem Jahr. Mit so wenig Zuwanderung, wie die Initiatoren vorgeschlagen haben, wäre die Schweizer Wirtschaft in kürzester Zeit vor großen Schwierigkeiten gestanden.
Nach Angaben der OECD profitiert die Schweiz enorm von der hohen Zuwanderung. Warum wollen die Schweizer also einen Migrations-Stopp?
In der Tat: Dass die Schweiz die Finanzkrise so gut überstanden hat, liegt zum Teil an der hohen Zuwanderung. Dennoch lässt sich die Einstellung der Schweizer gegenüber Einwanderern nicht auf rein wirtschaftliche Überlegungen reduzieren. Relativ gesehen wohnen in der Schweiz mehr Ausländer als in jedem EU-Land, mit Ausnahme von Luxemburg: Knapp ein Viertel der Bevölkerung sind in der Schweiz Einwanderer. Das führt dazu, dass sich die Schweizer zunehmend mit Fragen der Identität und Zugehörigkeit beschäftigen. Außerdem machen sich viele Bürger Sorgen darüber, ob der aktuelle Wohlstand weiter bestehen wird. Sie sprechen von „Dichtestress“, von steigenden Mietkosten und mangelnden Sitzplätzen in den Zügen. Das Paradoxe daran ist, dass es sich dabei um Luxus-Probleme handelt, die nur deshalb zur Debatte stehen, weil es uns gut geht. Und das verdanken wir wiederum der hohen Zuwanderung.
Sind es also die Großstadt-Schweizer, die sich für die Zuwanderer-Quote einsetzen?
Nein. Interessanterweise haben nicht die Menschen den Volksentscheid am meisten unterstützt, die in Ballungszentren leben, sondern diejenigen, die in kleineren Orten leben. Dabei sieht man: Es geht weniger um konkrete Probleme als um die Angst abgehängt zu werden – vor allem auf Seiten derer, die sich eher als Verlierer einer globalisierten Gesellschaft sehen.
Interview: Fabio Ghelli
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