Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019

Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsextremer, in die Synagoge in Halle einzudringen. Kurz darauf griff er Menschen in einem Imbiss und auf der Straße an, er tötete zwei Personen. Eine Übersicht über den Anschlag und die Folgen.

Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsextremer in die Synagoge in Halle (Saale) einzudringen und die Besucher zu töten. In der Synagoge feierten 51 Personenlaut Anklage waren es 52, im Urteil spricht das OLG Naumburg von 51 Personen einen Gottesdienst. Es war Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Neben Gemeindemitgliedern aus Halle waren Gäste aus anderen Städten und Ländern anwesend. Der Attentäter versuchte, durch die Tür der Synagoge einzudringen, um die Anwesenden zu töten. Er warf Brand- und Sprengsätze über die Mauer der Einrichtung. Er erschoss die Passantin Jana L.Quellevgl. Tatgeschehen laut OLG Naumburg: Urteil vom 21.12.2020 1 St 1/20, LINK; Netzwerk Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt (2021): Halle, 09. Oktober 2019: Der Anschlag, Ereignisse, Folgen, Hintergründe", LINK

Nachdem es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, fuhr er weiter und griff Menschen im Imbiss "Kiez Döner" an – diesen wählte er aus, um Muslime zu töten. Dort erschoss er den Gast Kevin S. Am Imbiss und der darauffolgenden Flucht verletzte er mit den selbstgebauten Waffen und einem Mietwagen weitere Personen in Halle sowie in Wiedersdorf, einige von ihnen schwer.Quellevgl. Tatgeschehen laut OLG Naumburg: Urteil vom 21.12.2020 1 St 1/20, LINK; Netzwerk Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt (2021): Halle, 09. Oktober 2019: Der Anschlag, Ereignisse, Folgen, Hintergründe", LINK

Die Polizei verhaftete den Täter nach rund eindreiviertel Stunden auf einer Bundesstraße. Vor der Tat veröffentlichte er ein Bekennerschreiben, in dem er sein antisemitisches Weltbild darlegte und dazu aufforderte, Personen ihm verhasster Bevölkerungsgruppen zu töten, darunter Juden, Muslime und Schwarze Menschen. Die Tat streamte er live im Internet.Quellevgl. Tatgeschehen laut OLG Naumburg: Urteil vom 21.12.2020 1 St 1/20, LINK; Netzwerk Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt (2021): Halle, 09. Oktober 2019: Der Anschlag, Ereignisse, Folgen, Hintergründe", LINK

Der erste Gerichtsprozess: Urteil und Nebenklage

Der Prozess gegen den Attentäter lief vom 21. Juli bis 21. Dezember 2020 am Oberlandesgericht Naumburg. Es war einer der größten Gerichtsprozesse der Nachkriegszeit im Bereich Rechtsterrorismus.

Das Urteil:

  • Der Täter erhielt das höchstmögliche Strafmaß und wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
  • Er wurde wegen zweier Morde verurteilt, 66 Mordversuchen, räuberischer Erpressung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung. Das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest, der Täter sei in vollem Umfang schuldfähig gewesen.
  • Das Gericht attestierte dem Täter eine rechtsextreme Gesinnung sowie ein antisemitisches, rassistisches, frauenfeindliches und menschenverachtendes Weltbild. Er wollte gezielt Menschen töten, die er als jüdisch, muslimisch oder ausländisch wahrnahm. Dem Gericht zufolge handelt es sich um einen "fanatisch-ideologisch motivierten Einzeltäter". Er sei ein Einzeltäter im juristischen Sinne, der keine weiteren Personen in die Planung einbezogen habe. Seine Radikalisierung fand jedoch im Austausch mit Gleichgesinnten in rechtsextremen Foren statt. Eine zentrale Orientierung für ihn sei das Attentat in Christchurch Anfang 2019 gewesen.QuelleOLG Naumburg: Urteil vom 21.12.2020 1 St 1/20, LINK, zur Pressemitteilung

Die einzelnen Prozesstage listet der Verein democ hier auf und hat Protokolle zum Prozess in diesem Buch veröffentlicht. Wissenschaftler und Aktivisten haben eine Chronik der Tat erstellt und zeigen Parallelen zu anderen rechtsterroristischen Taten auf. Der Tathergang wird im Urteil aufgeschlüsselt.

Nebenkläger und Kritik am Urteil

Es gab 43 Nebenkläger*innen, darunter Personen aus der Synagoge und dem "Kiez Döner", Personen, die auf der Straße angegriffen wurden, sowie Familienangehörige der Opfer. Die Nebenkläger bezeichneten das Urteil als mutlos und als verpasste Chance:

  • Es bestätige das Bild eines isolierten Einzeltäters und vernachlässige die gesellschaftliche Dimensionder Tat sowie die gesellschaftliche Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus und rechtsextremer Ideologien. Im Prozess habe sich ein veraltetes Verständnis der Radikalisierung von Rechtsextremen gezeigt, Online-Aktivitäten seien zu wenig berücksichtigt worden.
  • Zum familiären Umfeld des Täters habe es zu wenig Aufklärung gegeben.
  • Von Seiten der Nebenkläger gab es auch Kritik daran, dass bei zwei Personen kein versuchter Mord geurteilt wurde, bei einem Mitarbeiter des "Kiez Döner" – İsmet Tekin – und der Schwarzen Person Aftax I., den der Attentäter anfuhr.QuelleSchlussworte der Überlebenden im Halle Prozess, 18.12.2020, LINK; VBRG (2020): Prozessdokumentation 21. Dezember 2020, LINK; Beltower News (2022): ""Ein Urteil, das wir niemals als gerecht akzeptieren können.", LINK; Netzwerk Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt (2021): Halle, 09. Oktober 2019: Der Anschlag, Ereignisse, Folgen, Hintergründe", S. 11ff., LINK

Der zweite Gerichtsprozess

Mindestens zweimal versuchte der Attentäter aus dem Gefängnis auszubrechen. Am 12. Dezember 2022 nahm er zwei Gefängniswärter als Geiseln und bedrohte sie mit einer Waffe, die er während seiner Inhaftierung selbst gebaut hatte. Das Landgericht Stendal verurteilte den Attentäter im Februar 2024 dafür zu sieben Jahren Haft und Schmerzensgeld. Einem GutachtenDas Gutachten wurde im Zuge des 1. Prozesses erstellt, zitiert im Urteil zufolge wären vom Attentäter weitere Tötungsdelikte zu erwarten, hätte er die Gelegenheit dazu.QuelleZur Pressemitteilung des Landgerichts Stendal: "Halle-Attentäter wegen Geiselnahme zu sieben Jahren Haft verurteilt", LINK; OLG Naumburg: Urteil vom 21.12.2020 1 St 1/20, LINK

Untersuchungsausschuss

Ein Untersuchungsausschuss des Landtags Sachsen-Anhalts befasste sich 2020/2021 mit der Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können. Das Ergebnis:

  • Polizeihandeln: Der Ausschuss stellte keine wesentlichen Schwächen in Bezug auf die Planung und Handlungen der Polizei fest.QuelleLandtag von Sachsen-Anhalt (2021): Drucksache 7/7575, S. 110, LINK
  • Gefährdungseinschätzung: Nach Einschätzung der Polizei gab es an dem Tag keine besondere Gefährdung der Gemeinde. Laut Ausschuss war die konkrete Gefahr eines Terroranschlags kaum vorhersehbar, dennoch sei die Gefährdungseinschätzung unzureichend gewesen und müsse in Zukunft verbessert werden. Etwa brauche es bessere Analysen solcher Taten. Zudem müssten religiöse Feste stärker im Fokus der Polizei stehen.QuelleLandtag von Sachsen-Anhalt (2021): Drucksache 7/7575, S. 107ff., LINK
  • Prävention: Der Attentäter radikalisierte sich im Netz, dazu lagen den Sicherheitsbehörden und dem Verfassungsschutz keine Erkenntnisse vor. Personen, die sich online radikalisierten, müssten stärker in den Blick genommen werden. Zudem fehlte den Behörden Kenntnisse von Internetportalen.QuelleLandtag von Sachsen-Anhalt (2021): Drucksache 7/7575, S. 88, 90 LINK

Kritik an der Polizei und Sicherheitseinschätzung

Nach dem Anschlag standen die Sicherheitseinschätzung der Polizei, der Einsatz und die Ermittlungen der Polizei in der Kritik:

  • Gefährdungseinschätzung und Schutz: Die Polizei schützte die Synagoge nicht besonders, obwohl am Tag der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur gefeiert wurde. Für den Schutz der Synagoge hatte die Gemeinde finanziell selbst aufkommen müssen und dafür keine Unterstützung vom Land Sachsen-Anhalt erhalten. Mehr dazu unten.Quellevgl. SZ (2019): 'Schuster nennt fehlenden Polizeischutz "skandalös"', LINK; Mediendienst Integration (2021): "Wie steht es um den Schutz von Synagogen", LINK
  • Unsensibler Umgang: Betroffene berichteten davon, dass die Polizei nach dem Anschlag unsensibel mit ihnen umgegangen sei.Quellevgl. Frag den Staat (2021): "Interner Polizeibericht zeigt fehlende Opferbetreuung", LINK; Netzwerk Demokratie und Courage Sachsen-Anhalt (2021): Halle, 09. Oktober 2019: Der Anschlag, Ereignisse, Folgen, Hintergründe", S. 19ff., LINK; QuelleLandtag von Sachsen-Anhalt (2021): Drucksache 7/7575, S. 103, LINK
  • Fehlende Expertise: Auch kritisiert wurde die fehlende Expertise des BKA hinsichtlich der online-Radikalisierung des Täters und seiner Online-Aktivitäten.QuelleSchlussworte der Überlebenden im Halle Prozess, 18.12.2020, LINK; Landtag von Sachsen-Anhalt (2021): Drucksache 7/7575, S. 87f. LINK

Die Betroffenen: Belastung, Vernetzung und Solidarisierung

Viele Betroffene berichteten nach dem Anschlag von erheblichen psychischen Belastungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Angstzuständen. Einige zogen sich sozial zurück oder wurden arbeitsunfähig.Quellevgl. OLG Naumburg: Urteil vom 21.12.2020 1 St 1/20, LINK

Zwischen Angehörigen und Betroffenen des Anschlags gab es starke Vernetzung und Solidarisierung. Zudem gab es eine starke Vernetzung mit Betroffenen anderer rassistischer und rechtsextremer Anschläge in Hanau 2020 und Mölln 1992. Sie gründeten das seitdem jährlich durchgeführte Festival of Resilience.

Zwei Überlebende des Anschlags übernahmen kurz nach dem Anschlag den "Kiez Döner" und wandelten ihn in ein Frühstückscafé ("TEKIEZ") um. Das Café sollte unter anderem ein Ort für Austausch und Gedenken sein. Es musste kurz darauf wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage schließen. Aktuell ist TEKIEZ ein Begegnungsraum.QuelleAmadeu Antonio Stiftung (2022): "TEKIEZ in Halle", LINK

Politische Reaktionen

Das Bundeskabinett berief nach den Anschlägen in Halle 2019 und Hanau 2020 einen Ausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein, der 2021 einen Abschlussbericht und einen Maßnahmenkatalog vorlegte. Weiterhin sollte die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden verbessert, Hass im Netz konsequenter bekämpft und das Waffenrecht verschärft werden.QuelleBMI (2019): Pressemitteilung: Gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität, LINK; BMFSFJ (2020): Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, LINK; Bundesregierung (2021): "Abschlussbericht des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus", LINK; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2020): "Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus", LINK

Insbesondere kündigten Bund und Länder an, Synagogen besser zu schützen. Denn der Anschlag legte eklatante Sicherheitsmängel an jüdischen Einrichtungen offen. Mehr dazu hier.

Berichterstattung

Nach dem Anschlag gab es Kritik an einigen Medienberichten: Medien hätten sich zu sehr auf den Täter fokussiert und ihm eine Bühne geboten, Betroffene fühlten sich von Journalist*innen bedrängt und unsensibel behandelt. Ein Projekt der Deutschen Journalistenschule und des MEDIENDIENST INTEGRATION hat sich die Berichterstattung angesehen und Tipps für die Berichterstattung erstellt.QuelleDeutsche Journalistenschule und Mediendienst Integration (2020): Webstory #imgespräch, LINK; Eine Analyse von Beiträgen in SZ, FAZ und Welt findet sich im Beitrag von Hartl und Mahlberg (2022): "Eine Woche im Herbst - Erinnerungspolitik als Zivilreligion am Beispiel der medialen Bearbeitung des Attentats von Halle (Saale)", LINK