Am 9. Oktober 2019 versuchte ein bewaffneter Rechtsextremer in die Synagoge in Halle (Saale) einzudringen und die Besucher zu töten. In der Synagoge feierten 51 Personen einen Gottesdienst. Es war Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Neben Gemeindemitgliedern aus Halle waren Gäste aus anderen Städten und Ländern anwesend. Der Attentäter versuchte, durch die Tür der Synagoge einzudringen, um die Anwesenden zu töten. Er warf Brand- und Sprengsätze über die Mauer der Einrichtung. Er erschoss die Passantin Jana L.Quelle
Nachdem es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, fuhr er weiter und griff Menschen im Imbiss "Kiez Döner" an – diesen wählte er aus, um Muslime zu töten. Dort erschoss er den Gast Kevin S. Am Imbiss und der darauffolgenden Flucht verletzte er mit den selbstgebauten Waffen und einem Mietwagen weitere Personen in Halle sowie in Wiedersdorf, einige von ihnen schwer.Quelle
Die Polizei verhaftete den Täter nach rund eindreiviertel Stunden auf einer Bundesstraße. Vor der Tat veröffentlichte er ein Bekennerschreiben, in dem er sein antisemitisches Weltbild darlegte und dazu aufforderte, Personen ihm verhasster Bevölkerungsgruppen zu töten, darunter Juden, Muslime und Schwarze Menschen. Die Tat streamte er live im Internet.Quelle
Der erste Gerichtsprozess: Urteil und Nebenklage
Der Prozess gegen den Attentäter lief vom 21. Juli bis 21. Dezember 2020 am Oberlandesgericht Naumburg. Es war einer der größten Gerichtsprozesse der Nachkriegszeit im Bereich Rechtsterrorismus.
Das Urteil:
- Der Täter erhielt das höchstmögliche Strafmaß und wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
- Er wurde wegen zweier Morde verurteilt, 66 Mordversuchen, räuberischer Erpressung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung. Das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest, der Täter sei in vollem Umfang schuldfähig gewesen.
- Das Gericht attestierte dem Täter eine rechtsextreme Gesinnung sowie ein antisemitisches, rassistisches, frauenfeindliches und menschenverachtendes Weltbild. Er wollte gezielt Menschen töten, die er als jüdisch, muslimisch oder ausländisch wahrnahm. Dem Gericht zufolge handelt es sich um einen "fanatisch-ideologisch motivierten Einzeltäter". Er sei ein Einzeltäter im juristischen Sinne, der keine weiteren Personen in die Planung einbezogen habe. Seine Radikalisierung fand jedoch im Austausch mit Gleichgesinnten in rechtsextremen Foren statt. Eine zentrale Orientierung für ihn sei das Attentat in Christchurch Anfang 2019 gewesen.Quelle
Die einzelnen Prozesstage listet der Verein democ hier auf und hat Protokolle zum Prozess in diesem Buch veröffentlicht. Wissenschaftler und Aktivisten haben eine Chronik der Tat erstellt und zeigen Parallelen zu anderen rechtsterroristischen Taten auf. Der Tathergang wird im Urteil aufgeschlüsselt.
Nebenkläger und Kritik am Urteil
Es gab 43 Nebenkläger*innen, darunter Personen aus der Synagoge und dem "Kiez Döner", Personen, die auf der Straße angegriffen wurden, sowie Familienangehörige der Opfer. Die Nebenkläger bezeichneten das Urteil als mutlos und als verpasste Chance:
- Es bestätige das Bild eines isolierten Einzeltäters und vernachlässige die gesellschaftliche Dimensionder Tat sowie die gesellschaftliche Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus und rechtsextremer Ideologien. Im Prozess habe sich ein veraltetes Verständnis der Radikalisierung von Rechtsextremen gezeigt, Online-Aktivitäten seien zu wenig berücksichtigt worden.
- Zum familiären Umfeld des Täters habe es zu wenig Aufklärung gegeben.
- Von Seiten der Nebenkläger gab es auch Kritik daran, dass bei zwei Personen kein versuchter Mord geurteilt wurde, bei einem Mitarbeiter des "Kiez Döner" – İsmet Tekin – und der Schwarzen Person Aftax I., den der Attentäter anfuhr.Quelle
Der zweite Gerichtsprozess
Mindestens zweimal versuchte der Attentäter aus dem Gefängnis auszubrechen. Am 12. Dezember 2022 nahm er zwei Gefängniswärter als Geiseln und bedrohte sie mit einer Waffe, die er während seiner Inhaftierung selbst gebaut hatte. Das Landgericht Stendal verurteilte den Attentäter im Februar 2024 dafür zu sieben Jahren Haft und Schmerzensgeld. Einem Gutachten zufolge wären vom Attentäter weitere Tötungsdelikte zu erwarten, hätte er die Gelegenheit dazu.Quelle
Untersuchungsausschuss
Ein Untersuchungsausschuss des Landtags Sachsen-Anhalts befasste sich 2020/2021 mit der Frage, ob der Anschlag hätte verhindert werden können. Das Ergebnis:
- Polizeihandeln: Der Ausschuss stellte keine wesentlichen Schwächen in Bezug auf die Planung und Handlungen der Polizei fest.Quelle
- Gefährdungseinschätzung: Nach Einschätzung der Polizei gab es an dem Tag keine besondere Gefährdung der Gemeinde. Laut Ausschuss war die konkrete Gefahr eines Terroranschlags kaum vorhersehbar, dennoch sei die Gefährdungseinschätzung unzureichend gewesen und müsse in Zukunft verbessert werden. Etwa brauche es bessere Analysen solcher Taten. Zudem müssten religiöse Feste stärker im Fokus der Polizei stehen.Quelle
- Prävention: Der Attentäter radikalisierte sich im Netz, dazu lagen den Sicherheitsbehörden und dem Verfassungsschutz keine Erkenntnisse vor. Personen, die sich online radikalisierten, müssten stärker in den Blick genommen werden. Zudem fehlte den Behörden Kenntnisse von Internetportalen.Quelle
Kritik an der Polizei und Sicherheitseinschätzung
Nach dem Anschlag standen die Sicherheitseinschätzung der Polizei, der Einsatz und die Ermittlungen der Polizei in der Kritik:
- Gefährdungseinschätzung und Schutz: Die Polizei schützte die Synagoge nicht besonders, obwohl am Tag der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur gefeiert wurde. Für den Schutz der Synagoge hatte die Gemeinde finanziell selbst aufkommen müssen und dafür keine Unterstützung vom Land Sachsen-Anhalt erhalten. Mehr dazu unten.Quelle
- Unsensibler Umgang: Betroffene berichteten davon, dass die Polizei nach dem Anschlag unsensibel mit ihnen umgegangen sei.Quelle
- Fehlende Expertise: Auch kritisiert wurde die fehlende Expertise des BKA hinsichtlich der online-Radikalisierung des Täters und seiner Online-Aktivitäten.Quelle
Die Betroffenen: Belastung, Vernetzung und Solidarisierung
Viele Betroffene berichteten nach dem Anschlag von erheblichen psychischen Belastungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Angstzuständen. Einige zogen sich sozial zurück oder wurden arbeitsunfähig.Quelle
Zwischen Angehörigen und Betroffenen des Anschlags gab es starke Vernetzung und Solidarisierung. Zudem gab es eine starke Vernetzung mit Betroffenen anderer rassistischer und rechtsextremer Anschläge in Hanau 2020 und Mölln 1992. Sie gründeten das seitdem jährlich durchgeführte Festival of Resilience.
Zwei Überlebende des Anschlags übernahmen kurz nach dem Anschlag den "Kiez Döner" und wandelten ihn in ein Frühstückscafé ("TEKIEZ") um. Das Café sollte unter anderem ein Ort für Austausch und Gedenken sein. Es musste kurz darauf wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage schließen. Aktuell ist TEKIEZ ein Begegnungsraum.Quelle
Politische Reaktionen
Das Bundeskabinett berief nach den Anschlägen in Halle 2019 und Hanau 2020 einen Ausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ein, der 2021 einen Abschlussbericht und einen Maßnahmenkatalog vorlegte. Weiterhin sollte die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden verbessert, Hass im Netz konsequenter bekämpft und das Waffenrecht verschärft werden.Quelle
Insbesondere kündigten Bund und Länder an, Synagogen besser zu schützen. Denn der Anschlag legte eklatante Sicherheitsmängel an jüdischen Einrichtungen offen. Mehr dazu hier.
Berichterstattung
Nach dem Anschlag gab es Kritik an einigen Medienberichten: Medien hätten sich zu sehr auf den Täter fokussiert und ihm eine Bühne geboten, Betroffene fühlten sich von Journalist*innen bedrängt und unsensibel behandelt. Ein Projekt der Deutschen Journalistenschule und des MEDIENDIENST INTEGRATION hat sich die Berichterstattung angesehen und Tipps für die Berichterstattung erstellt.Quelle