MEDIENDIENST: Viele Menschen in Deutschland, Armenien und der Türkei engagieren sich seit vielen Jahren für die Aufarbeitung des Völkermordes an den christlichen Armeniern im Osmanischen Reich. Warum dringt dieses Engagement nicht in die Öffentlichkeit vor, was ist so schwierig an der historischen Aufarbeitung?
Dr. BERNA PEKESEN: Die Aufklärungsarbeit der Zivilgesellschaft – sei es in der Türkei, Deutschland oder Armenien – hat in der Tat sehr viel dazu beigetragen, dass das Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Auch Wissenschaftler haben neue Erkenntnisse geliefert. Das Problem ist, dass man die historische Aufarbeitung der türkischen Politik und schon gar nicht der türkischen Gesellschaft aufzwingen kann. Noch ist die Aufarbeitung der Vergangenheit politisch nicht gewollt.
Was braucht es dafür?
Eine historische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann nur in einer offenen, demokratischen Gesellschaft geschehen. Zwar hat sich auch in der türkischen Gesellschaft in den letzten 10, 15 Jahren viel getan, einige Kreise in der Türkei sind sehr sensibilisiert für den Umgang mit den eher „dunkleren“ Phasen der eigenen Geschichte. Aber trotzdem ist noch ein weiter Weg zu gehen.
Stichwort EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Vor zehn Jahren spielte die Forderung, sie müsse den Völkermord anerkennen, eine wichtige Rolle und wurde als Voraussetzung für einen EU-Beitritt gesehen. Was ist seither geschehen?
Man ist an einem toten Punkt angekommen. Die Frage der Anerkennung des Genozids wurde in der internationalen Politik als Instrument der Einflussnahme auf die Türkei genutzt. Seit 2000 haben mehrere Mitgliedstaaten der EU, zum Beispiel Frankreich, Schweden, Belgien und Polen offiziell den Genozid anerkannt. Das hat türkische Politiker beunruhigt, aber sie haben es ausgesessen. Inzwischen hat der türkische Staat die EU-Perspektive aufgegeben. Die Türkei will sich als „unabhängiger“ Staat inszenieren, der sich dem internationalen Druck nicht beugt. Sie sucht sich ihre Allianzen inzwischen woanders.
In Deutschland leben über 40.000 Armenier und rund 3 Millionen Türkeistämmige. Inwiefern beschäftigt das historische Geschehen diese Minderheiten in Deutschland noch, ist das oft Thema?
Es ist überhaupt das Thema schlechthin! Es ist ein ständiges Reizthema zwischen beiden Bevölkerungsgruppen. Nach meinem Eindruck herrscht auf beiden Seiten ein großes Misstrauen. Beide Seiten sind extrem politisiert und polarisiert. Aus eigener Beobachtung weiß ich, dass Armenier und Türken, wenn sie sich persönlich begegnen, einen durchaus zivilisierten Umgang miteinander pflegen können. Doch das Thema Genozid bleibt immer ein Streitpunkt und erhitzt die Gemüter. In der akademischen Welt sind die Beziehungen freilich anders, sachlich und gelassener.
Das Deutsche Kaiserreich war der wichtigste Verbündete des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg. Deutschland wusste von den Massakern, unternahm aber nichts. Der Autor und Journalist Jürgen Gottschlich hatte Deutschland deswegen kürzlich in seinem Buch "Beihilfe zum Völkermord" vorgeworfen. Auch zu Ihrem Schwerpunkt gehören die Verwicklungen des Deutschen Kaiserreichs – was wissen Menschen in Deutschland heute davon?
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Wenig, so wie nur sehr wenige Menschen in Deutschland wissen, dass das Deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg Verbündete waren. Das sind Detailkenntnisse, die nur Berufshistoriker interessieren.
1921 wurde in Berlin ein Attentat auf Talaat Pascha verübt, einen der Hauptschuldigen des Völkermords an den Armeniern. Warum waren er und andere Täter aus dieser Zeit in Deutschland?
Er war zusammen mit einigen anderen Spitzenpolitikern 1919 von einem Istanbuler Kriegsgerichtshof in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Zuvor konnte er jedoch mit deutscher Unterstützung fliehen und lebte in Berlin. Er hatte in Deutschland ein helfendes Netzwerk. Wäre er nicht getötet, sondern vor ein internationales Gericht gestellt worden, hätte er seine vielen „Geheimnisse“ wahrscheinlich nicht mit ins Grab nehmen können. Ihm und anderen politischen Verantwortlichen den Prozess zu machen, wäre die bessere Option gewesen.
Bis heute sind die Beziehungen zwischen Armeniern und Türken gestört. Der Mord am Journalisten Hrant Dink in der Türkei war zudem eine Zäsur: Der Chefredakteur der armenischen Wochenzeitung AGOS wurde 2007 vor dem Redaktionsgebäude in Istanbul erschossen. Welche Folgen hatte diese Tat für das Zusammenleben von Armeniern und Türken in Deutschland?
Das vermag ich nicht zu sagen. Aber sein Tod hat einiges bewirkt. Wahrscheinlich sind die Folgen hier nicht viel anders als in der Türkei selbst. Viele Menschen, die sich sonst nicht für Politik interessieren, sind nach seiner Ermordung auf die Straße gegangen. Ungeachtet der ständigen Belastungen zwischen Armenien und der Türkei trauern immer noch sehr viele Menschen um ihn. Denn er war kein Polarisierer, sondern ein Versöhner. Sein großes Verdienst war es, ein Tabuthema zur Sprache zu bringen und sich Gehör zu verschaffen, was keiner öffentlichen Persönlichkeit zuvor in der Türkei gelungen war. Es ist und bleibt eine Tragödie!
Interview: Ferda Ataman