Als Deutschland 1980 die Visapflicht für Türken neu einführte, setzte es sich über geltende Verträge hinweg, sagt Prof. Rolf Gutmann, Herausgeber der Fachzeitschrift Informationsbrief Ausländerrecht. Er meint das „Assoziierungsabkommen“ von 1963, das die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei fördern sollte. Darin wurde auch die Reisefreiheit zwischen den beiden Ländern geregelt und nach einer Vertragsklausel dürfen einmal erlangte Rechte nicht wieder abgesprochen werden.
Gutmann vertritt den Fall Leyla Huber, die nun als zweite Türkin die Bundesrepublik verklagt. Der Rechtsanwalt hatte bereits Erfolg in einem ähnlichen Fall: Der LKW-Fahrer Mehmet Soysal hatte Deutschland verklagt, weil ihm das Einreisevisum verweigert wurde. Auch dieser Fall wurde vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) getragen, der 2009 mit dem so genannten Soysal-Urteil zugunsten des Fernfahrers entschied - auf Grundlage des Assoziierungsabkommens. Die Richter erklärten, Soysal wollte als Dienstleister einreisen und das dürfe man ihm nicht verwehren.
Seither brauchen Dienstleistungsanbieter aus der Türkei kein Visum mehr für Deutschland. Ob diese Dienstleistungsfreiheit nicht nur aktiv, sondern auch passiv ausgelegt werden kann - das ist nun die Frage, die Anfang November in Luxemburg verhandelt wurde. Am 28. Februar 2013 folgt der Schlussantrag des Generalanwalts (ab 09.30 Uhr online), im Sommer 2013 ist mit einem Ergebnis zu rechnen.
Herr Gutmann, was ist eine passive Dienstleistung?
Gutmann:Wenn Menschen nach Deutschland einreisen und etwas einkaufen, zum Frisör gehen, Sehenswürdigkeiten im Rahmen einer Studienreise besuchen oder sich einer Krankenbehandlung unterziehen, nehmen sie Dienstleistungen in Anspruch. Darum geht es. Nimmt man das Assozierungsabkommen genau, fällt auch die „passive“ Dienstleistungsfreiheit darunter.
Was ist Gegenstand der Verhandlung beim EuGH?
Gutmann:Zunächst sollen die Richter entscheiden, ob türkische Touristen auf Grundlage des Assoziierungsabkommen Anspruch auf passive Dienstleistungsfreiheit haben und damit die Visapflicht für sie aufgehoben werden muss. Falls sie das bejahen, müssen sie noch entscheiden, ob meine Mandantin davon ebenfalls profitiert, die zum Zweck des Verwandtenbesuchs einreisen will.
Wie hat das Soysal-Urteil seit 2009 die Arbeit des deutschen Generalkonsulats in der Türkei verändert?
Gutmann:Der Rechtsanspruch auf Visumsfreiheit für Dienstleistungsanbieter hat sich in der Türkei rumgesprochen und wird genutzt. Allerdings ist das Verfahren zur „Feststellung der Visumsfreiheit“ sehr kompliziert. Die Türken beklagen, dass sie den deutschen Beamten in Istanbul und Ankara noch mehr Dokumente vorlegen müssen, als zuvor. Da der bürokratische Aufwand erheblich ist, kann man meines Erachtens nicht wirklich von einer Dienstleistungsfreiheit reden.
Sie haben 2009 Strafanzeige gegen den damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble erstattet. Ihr Vorwurf: In dem er die Bundespolizei weiterhin anhält, Visa von Türken zu verlangen, fordere er seine Untergebenen dazu auf, rechtswidrig zu handeln. Die Staatsanwaltschaft hat das zurückgewiesen und erklärt, es handle sich um eine legitime Auslegung des Soysal-Urteils, wenn die Dienstleistungsfreiheit nur für Geschäftsleute und Gewerbeangestellte gilt.
Gutmann:Uns ging es mit der Strafanzeige nicht um ein Urteil gegen Schäuble, wir wollten ihm lediglich seine Grenzen im Amt aufzeigen. Der Innenminister hatte nämlich in einem Interview in der türkischen Zeitung Hürriyet erklärt, dass das EuGH-Urteil nichts geändert hätte. Und es gab nach dem Soysal-Urteil Strafanzeigen gegen angeblich rechtswidrig eingereiste Türken. Die Strafanzeige gegen Schäuble hat wieder eine Diskussion entfacht.
Wie ist die neue Verhandlung beim EuGH Anfang November verlaufen?
Gutmann:Der Ball ist im Feld, nun muss man abwarten. Grundsätzlich war keine Tendenz der Richter in Luxemburg erkennbar, was mich zufrieden stimmt. Ich würde sagen, wir haben eine Chance.
Falls es zugunsten ihrer Mandantin ausgeht: Was lässt Sie annehmen, dass dieses Urteil mehr in Bewegung setzt, als das Soysal-Urteil?
Gutmann:Was es politisch bedeutet, kann ich nicht beurteilen. Aber auf der persönlichen Ebene würde es bedeuten, dass Türken, die ihre Verwandten besuchen wollen, das künftig auch können. Der bürokratische Aufwand wäre diesmal nicht zu erwarten, denn es bräuchte keine Feststellung der Visafreiheit mehr, da es alle türkischen Staatsbürger beträfe.
Prof. Dr. Rolf Gutmann ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt auf Verwaltungsrecht, Ausländer- und Beamtenrecht. Er hat zahlreiche Publikationen unter anderem zum Assoziationsrecht geschrieben und diverse Verfahren vor dem EuGH geführt.
Das Interview führte Ferda Ataman, 20.11.2012