Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Mölln fanden unter anderen Vorzeichen statt als Heidenau, Freital oder Clausnitz. Die Pogrome und Brandanschläge der 90er Jahre waren der radikalste Ausdruck des gesellschaftlichen Konsenses: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Die Mehrheit der Bevölkerung und die Politik waren der Meinung, dies gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit durchsetzen zu können. Diesen Konsens gibt es nicht mehr. Der rechte Terror und der Aufstieg der "Alternative für Deutschland" (AfD) heute spielen sich in einem Land ab, das Migration und die Migranten letztlich akzeptiert hat.Trotz aller atemlosen Verschärfungen des Asylrechts: Es wird nicht mehr darum gestritten, ob Menschen ins Land kommen, sondern nur noch darum, wie viele , welche und mit welcher Geschwindigkeit . Einen echten Einwanderungsstopp will auch die CDU nicht mehr, das Einwanderungsgesetz, gegen das sie sich so lange gesperrt hat, soll kommen. Die Medien sind auf Pro-Migrationslinie, Flüchtlingssolidarität ist eine breite soziale Bewegung. Die Art und Weise, wie dieses Land mit Migranten und Flüchtlingen umgeht, ist heute eine andere.Die Transformation hat ökonomische Gründe, aber sie ist vor allem auch das Werk der Migranten und Flüchtlinge selbst. Sie haben nicht akzeptiert, dass Deutschland kein Einwanderungsland sein wollte und dass es auch keine Flüchtlinge wollte. Sie haben dieses Dogma herausgefordert, den Zugang zu Deutschland freigekämpft, sie sind gekommen und sie haben die Gesellschaft verändert.
Die Situation in Deutschland ist anders als in den 90er Jahren
Die Politik schaut hin: 1992 töten Neonazis in Deutschland 34 Menschen. Bundesinnenminister Manfred Kanther und Kanzler Helmut Kohl (beide CDU) nehmen an keiner einzigen Trauerfeier für die Toten teil. Kohls Sprecher erklärt, die Regierung wolle nicht in einen "Beileidstourismus verfallen". 2012 veranstaltet Bundeskanzlerin Angela Merkel, ebenfalls CDU, für die Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrund" einen Staatsakt. Als am Karsamstag 2015 im sachsen-anhaltinischen Tröglitz ein noch unbewohntes Flüchtlingsheim angezündet wird, steht acht Stunden später CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff mit einem Megafon auf dem Dorfplatz.#1430#Aus Desinteresse wird Aufmerksamkeit: Noch vor einigen Jahren hatten die Flüchtlingsräte Mühe, die Öffentlichkeit auch nur für die allerhärtesten Abschiebeschicksale zu interessieren. Ihr Verhältnis zu Journalisten war das von Bittstellern. Heute werden Flüchtlingsinitiativen mit so vielen Anfragen von Festivals, Theatern, Kunstprojekten, Filmschaffenden, Autoren, Fotografen, Publizisten, Journalisten, Akademien, Schulen, Firmen, Studenten, Wissenschaftlern, Werbeagenturen, Vereinen und NGOs bestürmt, dass manche es nicht mal mehr schaffen, auch nur E-Mails mit Absagen zu verschicken.Nicht nur die Zivilgesellschaft, auch die Institutionen haben sich verändert. Die Realität der Migration hat sie zur Anpassung gezwungen. Was lange verhindert werden sollte, kann jetzt bestenfalls verwaltet werden. Zwar ist die Diskussion über schnellere Abschiebungen voll entbrannt, aber niemand bezweifelt, dass eine sehr große Zahl der Gekommenen bleiben wird. Wo die soziale und vor allem ökonomische Integration von Geduldeten und Asylbewerbern früher mit Arbeitsverboten und anderen Schikanen um jeden Preis verhindert werden sollte, macht sich jetzt Pragmatismus breit.Arbeitgeber und Wirtschaft beteiligen sich aktiv: Arbeitsagenturen und Handelskammern lassen sich von ehemaligen "NoBorder"-Aktivisten im Umgang mit Flüchtlingen beraten, Gewerkschaften und Arbeitgeber schließen Beschäftigungspakte für Flüchtlinge, große Firmen starten Initiativen zur Arbeitsmarktintegration, Behörden greifen auf die Ressourcen zivilgesellschaftlicher Gruppen zurück, Universitäten lassen Flüchtlinge als Gasthörer zu und erleichtern die Bedingungen für die Immatrikulation.-
Dieser Wandel hat gleichermaßen politische, ökonomische wie menschenrechtliche Ursachen. Eine davon ist der Konflikt in Syrien. Es ist eine der größten humanitären Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg und sie spielt sich direkt vor den Toren Europas ab. Syrien hat es fast unmöglich gemacht, Asyl als solches zu delegitimieren.
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Zum anderen ist Deutschland Gewinner der Eurokrise. Seit langem treiben die Wirtschaftsverbände die Union mit ihren Forderungen nach mehr Zuwanderung vor sich her. Unternehmen und Wirtschaftsverbände werben öffentlich für eine schnellere Integration.
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Doch es gibt auch eine gesellschaftliche Dimension. Sie geht zurück in die Zeit von Rot-Grün, ab 1998. Es war die erste Bundesregierung, die sich zum Einwanderungsland bekannte und vom starren, anachronistischen Blutsprinzip bei der Staatsangehörigkeit abkehren und ein Einwanderungsrecht schaffen wollte. Das Zuwanderungsgesetz von 2004 brachte zwar keineswegs den Durchbruch – der steht bis heute aus –, aber die jahrzehntelange, bleierne Verleugnung der Einwanderungsrealität war gebrochen.
In diesem Zusammenhang spielte eine Gruppe von Menschen eine wichtige Rolle, die heute als "postmigrantisches" Milieu bezeichnet werden. Die zweite bis dritte Einwanderergeneration, die den Bildungsrückstand aufgeholt und mit großer Kraft in wichtige gesellschaftliche Schaltstellen wie Wissenschaft, Politik, Journalismus und Kunst drängte. Irgendwann tauchten Deutsche mit untypischen Namen und Aussehen auf – als Abgeordnete oder Nachrichtensprecher, saßen in Talkshows und hielten Vorträge. Selbstbewusst forderten Gruppen wie das Netzwerk "Kanak Attak" die Dominanzkultur der Mehrheitsgesellschaft heraus und formten den Einwanderungsdiskurs. Sie stellten ein Bindeglied zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der marginalisierten Flüchtlingscommunity dar, für die der Weg zu gleichen Rechten und Teilhabe am weitesten war.