MEDIENDIENST: Vor einem Jahr brannte das Flüchtlingslager in Moria, die Situation auf den griechischen Inseln war in aller Munde. Wie ist die Lage jetzt?
Eva Schemmelmann: Die Situation ist weiterhin dramatisch. Es hat noch mehrere Brände in Lagern gegeben, auch hier auf der Insel Samos, wo ich arbeite. Die Geflüchteten werden weiterhin gegen ihren Willen auf der Insel festgehalten und unter unwürdigen Bedingungen untergebracht: Sie hausen in kleinen Zelten, ohne Elektrizität oder Wasserleitungen, sanitäre Anlagen gibt es kaum. Im Winter ist es viel zu kalt, jetzt im Sommer ist es gefährlich heiß. Das Essen ist oft ungenießbar, regelmäßig findet man Maden oder Schimmel im Essen. Einige Geflüchtete haben lebensbedrohliche Erkrankungen und brauchen dringend eine Behandlung, die es auf der Insel aber nicht gibt. Trotzdem werden sie nicht von der Insel gelassen. Der Vater einer meiner Klienten ist deswegen kürzlich gestorben.
Das höchste europäische Menschenrechtsgericht hat mehrfach geurteilt, dass diese Bedingungen in den Lagern europarechtswidrig sind. Hat sich dadurch etwas verändert?
Kaum. Die Urteile führen zwar zu einer besseren Situation für den oder die jeweilige*n Kläger*in. Aber an den Camp-Bedingungen haben sie bisher nichts geändert. Im Gegenteil, auf Samos gibt es beunruhigende Entwicklungen: Es wird ein neues Camp gebaut, das fernab der Stadt Vathy und jeglicher Infrastruktur liegt. Es gibt dort keine ausreichende Wasserversorgung, keinen Schatten und um das Camp wurde bereits ein hoher Stacheldrahtzaun gezogen. Die Geflüchtete leben schon jetzt unter unwürdigen Bedingungen und haben Angst davor, in dieses Camp verlagert zu werden.
Ein Viertel der geflüchteten Personen auf den Inseln sind Kinder. Wie ist ihre Situation?
Viele der Kinder hier gehen nicht zur Schule. Das Anmeldeverfahren an den Schulen ist kompliziert, außerdem schrecken viele Diskriminierungsfälle die Familien davor ab, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Zudem sind die Schulen hier schlichtweg nicht darauf ausgerichtet, tausende Flüchtlingskinder zu integrieren. Einige Kinder leben seit Jahren in diesem Camp. Sie hängen auf den Straßen herum, viele sind depressiv.
Warum sind so viele Schutzsuchende schon seit Jahren auf den Inseln?
Es gibt zwei Gründe: Erstens dauern die Asylverfahren ewig. Eigentlich sollten Asylanträge in den „Hotspots“ auf den griechischen Inseln möglichst schnell bearbeitet werden. Das Gegenteil ist der Fall: Geflüchtete warten teilweise jahrelang auf ihre Anhörung. Bei Minderjährigen ist es noch schlimmer: Bei ihnen muss erst einmal die Minderjährigkeit festgestellt werden. Einer meiner Klienten wartet seit eineinhalb Jahren nur auf diesen Feststellungstermin. Von einem Asylverfahren ist da noch gar nicht die Rede. Ein weiterer Grund, warum die Schutzsuchenden so lange auf der Insel sind: Sie können nicht mehr in die Türkei zurück abgeschoben werden. Denn seit März 2020 weigert sich die Türkei, an diesen Abschiebungen mitzuwirken und die Menschen wieder aufzunehmen. Für die Menschen hier bedeutet das: es gibt kein Vor und kein Zurück.
Eva Schemmelmann arbeitet als Asylrechtsberaterin auf der griechischen Insel Samos. Sie berät dort Geflüchtete zu Fragen des Schnellverfahrens, das im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens auf den griechischen Inseln implementiert wurde. Schemmelmann ist Sozialarbeiterin und hat den Master "Bildung, Leitung, Diversität - Schwerpunkt Flucht und Migration" sowie die Asylrechtsfortbildung der RLC Berlin absolviert.
Es gibt eine neue Ministeriumsentscheidung in Griechenland, die den EU-Türkei-Deal erweitert: Nicht nur für Syrer*innen, sondern auch für fast alle anderen Geflüchteten, die in Griechenland ankommen, gilt die Türkei jetzt als „sicherer Drittstaat“. Was bedeutet das?
Diese Entscheidung vom 7. Juli erweitert ein Gesetz, das schon vorher hochproblematisch war. Bislang galt mit dem EU-Türkei-Deal: die Türkei ist ein sicheres Land für Syrer*innen. Wenn sie auf Samos oder den anderen griechischen Inseln ankommen, sollen sie im Regelfall direkt wieder in die Türkei abgeschoben werden. Für Geflüchtete ist das fatal, denn viele Syrer*innen erleben in der Türkei Diskriminierung. Ich habe einen Klienten aus Syrien, der schwul ist. Sogar er soll wieder in die Türkei abgeschoben werden, obwohl Homosexuelle in der Türkei Verfolgung erleben.
Und durch die Gesetzesänderung soll die Türkei nicht nur für Syrer*innen, sondern auch für alle anderen als sicher gelten?
Genau. Die Türkei soll jetzt auch für Personen aus Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia als „sicherer Drittstaat“ gelten. Die Hälfte der Geflüchteten hier auf den Inseln sind Afghan*innen. Auch sie sind jetzt also angeblich „sicher“ in der Türkei – obwohl Afghan*innen in der Türkei kein faires Asylverfahren nach dem Standard der Genfer Flüchtlingskonvention bekommen und es Massenabschiebungen und Pushbacks gegen Afghan*innen gibt.
Hat das überhaupt Auswirkungen? Die Türkei weigert sich seit März 2020 ja ohnehin, Geflüchtete von den griechischen Inseln zurückzunehmen.
Das stimmt, de facto wird zur Zeit niemand in die Türkei abgeschoben. Dennoch ist die Situation für die Betroffenen zermürbend: Sie dürfen nicht von der Insel weiter aufs griechische Festland, weil sie ja in die Türkei abgeschoben werden sollen. Nach der Abschiebeentscheidung bekommen sie kein Geld, kein Essen und haben keinen Anspruch auf einen Camp-Platz. Und sie wissen, dass sobald die EU sich mit der Türkei geeinigt hat, sie dorthin abgeschoben werden.
Medienberichte haben aufgedeckt, dass die griechische Grenzwache regelmäßig illegale „Pushbacks“ durchführt und Frontex dabei anwesend oder sogar daran beteiligt war. Was bekommen Sie davon vor Ort mit?
Das Auffälligste ist: Seit gut einem Jahr kommen kaum noch Geflüchtete auf den Inseln an. In den ersten Monaten dieses Jahres waren es auf Samos wochenlang Null. Mehrere meiner Klient*innen haben selbst Pushbacks erlebt. Wir haben sogar mitbekommen, dass Geflüchtete noch hier auf der Insel verfolgt und zurück in die Türkei gebracht wurden. Das ist das, was uns hier am Meisten erschüttert: Dass das zentrale europäische Menschenrecht, nämlich Asyl zumindest beantragen zu können – ob man es dann auch bekommt, ist ja nochmal eine andere Frage – hier an den Außengrenzen mehr und mehr verschwindet.
Interview: Donata Hasselmann
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