Menschen aus Einwandererfamilien machen je nach Region bis zu zehn Prozent der Wahlberechtigten aus, in manchen Wahlkreisen sind es deutlich mehr. Das wissen längst auch die Parteien. Bereits 1996 schrieb Der Spiegel: "Die Parteien entdecken eine neue Mitgliederreserve – die ehemaligen Gastarbeiter und deren in Deutschland geborene Kinder." Damals wurden erste Ansätze diskutiert und parteiinterne Migrantengruppen gebildet. Die Suche nach geeigneten Mitteln für den Stimmfang im Migrantenmilieu setzt sich bis heute fort. Der Mediendienst Integration hat nachgefragt, was die Parteien im Bundestag in diesem Wahlkampf dafür vorgesehen haben.
CDU: Ambivalenz überwunden, Symbole für Migranten
Über viele Jahre gab es wenig konkrete Hinweise darauf, dass die Christlich Demokratische Union Deutschlands ethnische Minderheiten wie Türken, Araber, Italiener oder Spanier als Zielgruppe definiert hatte. Inzwischen hat sich das offenbar geändert. Die Personalpolitik der CDU verdeutlicht die Ambivalenz und Wende: 2010 wurde die Quereinsteigerin Aygül Özkan in Niedersachsen zur "ersten türkischstämmigen Ministerin" ernannt. Ein Novum für ganz Deutschland. Auf der anderen Seite stellen die Christdemokraten mit Cemile Giousouf zum ersten Mal eine CDU-Kandidatin "mit Zuwanderungsgeschichte" für einen aussichtsreichen Platz im Bundestag auf – SPD und Grüne hatten das bereits vor über zehn Jahren getan.
Auch inhaltlich bringt sich die CDU in Stellung: Ende 2011 haben die Christdemokraten den "Bundesfachausschuss Innenpolitik und Integration" gegründet und einen Beschluss unter dem Motto "Vielfalt und Zusammenhalt" veröffentlicht. Konkrete Maßnahmen stehen nicht darin, aber ein grundsätzliches Bekenntnis zur Pluralität in Deutschland.
Bülent Arslan, Vorsitzender im "Deutsch-Türkischen Forum" (DTF) der CDU und seit fast 20 Jahren in der CDU aktiv, sitzt dem neu gegründeten Netzwerk Integration vor, zu dem bei der CDU leider keine weiteren Informationen zu finden sind, als die Kontaktdaten von Arslan.
Laut Pressestelle soll das Netzwerk Strategien erarbeiten, wie man Wähler mit Migrationshintergrund gewinnen kann, und CDU-Mitglieder bündeln, die sich mit dem Thema Integration beschäftigen. Über die Wahlkampfthemen werde noch beraten, sagte Arslan dem MDI. Sicher sei, dass diese aus dem Wahlprogramm der CDU entnommen werden. Arslan persönlich möchte die Themen Arbeit und Wirtschaft, Familie sowie Religion in den Mittelpunkt rücken.
SPD: Ringen um neues Vertrauen
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands verzichtet auf den Begriff Integration und gründete Anfang Juni ein Kompetenzteam mit der Bundesarbeitsgruppe Migration und Vielfalt. Vorsitzende ist die stellvertretende Parteivorsitzende Aydan Özoğuz aus Hamburg, ihr Stellvertreter ist Aziz Bozkurt, der wiederum gleichzeitig der Berliner AG Migration vorsitzt.
Özoğuz, Bozkurt und die anderen haben durchaus keine leichte Aufgabe: Die SPD ist vor allem bei vielen traditionell sozialdemokratisch wählenden Türkeistämmigen in Misskredit geraten. Grund dafür ist unter anderem die Personalie Thilo Sarrazin, aber auch das bis heute nicht eingeführte Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft, dass die SPD ihren Wählern aus Einwandererfamilien mehrfach versprochen hat. Die Arbeitsgruppe Migration und Vielfalt soll dieses Vertrauen wieder herstellen. Dafür muss sie sich bisweilen von der Parteilinie lösen.
Im Wahlkampf wird die AG laut Aziz Bozkurt unmissverständlich klarmachen, dass im Falle einer Koalition die SPD von dem Versprechen „Doppelte Staatsbürgerschaft“ nicht abrücken darf. Außerdem werde sie auf die Themen Flüchtlinge, Interkulturelle Öffnung, Wahlrecht und Antidiskriminierung setzen. Bozkurt stellt klar: Die Arbeitsgruppe werde in einigen Punkten über die Beschlüsse der Partei im Wahlprogramm hinaus gehen. So wolle sie das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen, während die Partei dieses „nur ändern“ wolle. Sie wolle außerdem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) durch ein neues Antidiskriminierungsgesetz ersetzen.
Bündnis 90/Grüne: Mehrsprachige Flyer, keine Migrantenquote
Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Migration und Flucht der Grünen (Seite im Aufbau) versteht sich als Think Tank. Eine Besonderheit: Als Ergebnis einer jahrelangen Diskussion habe sich die Partei von der Integrationspolitik verabschiedet und wende sich jetzt der Inklusionspolitik zu, so AG-Sprecherin Melanie Schnatsmeyer. Die Bundestagsfraktion stellte Mitte Juni ein entsprechendes Positionspapier vor.
Bei der Frage nach Kandidaten mit Migrationshintergrund gingen die Grünen einen Schritt weiter als andere Parteien und diskutierten über die Einführung einer Migrantenquote. Die AG habe sich dagegen entschieden, sagt Schnatsmeyer. Zur Ablehnung der Quote beigetragen habe unter anderem die Frage, bis zu welcher Generation ein Mensch noch einen Migrationshintergrund habe.
Mitglieder aus Einwandererfamilien mit Posten zu versehen, ist für die Grünen nicht neu. Inzwischen wird der Migrationshintergrund von Abgeordneten wie Memet Kilic, Josef Winkler oder dem hessischen Landesvorsitzenden Tarek Al-Wazir nicht mehr hervorgehoben.
In ihrem Wahlprogramm findet sich bei den Grünen unter "BürgerInnenrechte stärken" ein Unterpunkt zu Einbürgerung und Inklusion. BAG-Sprecherin Schnatsmeyer nennt als zentrale Themen für den Wahlkampf den Umgang mit Flüchtlingen, eine Novellierung des Zuwanderungsgesetzes mit einem Punktesystem, die Abschaffung der Optionspflicht, ein kommunales Wahlrecht für alle und die Abkehr vom Integrations-Begriff.
Für den Wahlkampf seien Flyer zu den Schwerpunktthemen in verschiedenen Sprachen geplant.
Die Linke: Migrantenvereine besuchen, Plakate mit Gysi
Die Bundespartei der Linken hat 2012 ebenfalls eine eigens für Einwandererthemen zuständige Bundesarbeitsgruppe Migration, Integration und Antirassismus gegründet, die am Wahlprogramm mitgewirkt hat. Sprecher der Arbeitsgruppe ist Ali Al Dailami, Mitglied im Parteivorstand. Der Gießener mit jemenitischen Eltern wurde in seiner Stadt zum Direktkandidaten für den Bundestag gewählt.
Die Linke will nach eigener Erklärung Einwanderer und ihre Nachkommen als Querschnitt der Bevölkerung betrachten und sie mit dem gesamten Parteiprogramm ansprechen, so wie die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Trotzdem hat sie für diese Wählergruppe einige Schwerpunktthemen im Wahlkampf hervorgehoben. Im Wahlprogramm findet sich ein ausführlicher Punktekatalog unter dem Titel: „Demokratie für alle, die hier leben. Gleiche Rechte für Migrantinnen und Migranten“. Darunter finden sich Forderungen, die über die von SPD und Grünen hinausgehen:
- Wahlrecht für in Deutschland lebende Einwanderer – nicht nur auf kommunaler-, sondern auch auf Bundes- und Landesebene,
- umfassende Liberalisierung der Visa-Vergabe bzw. eine Aufhebung der Visumpflicht,
- offene Grenzen für Menschen in Not, ohne das "Nützlichkeitsprinzip".
Um mit diesen Themen zu werben, will die Partei Informationsmaterial in mehreren Sprachen vorbereiten. Die Kandidaten mit Migrationshintergrund wollen keine gezielten Wahlveranstaltungen für Migranten durchführen, das habe sich in der Vergangenheit nicht bewährt, erklärt die Pressestelle dem MDI. Man habe die Erfahrung gemacht, dass kaum Besucher kamen.
Stattdessen wollen die Linken selbst Migrantenvereine besuchen. Auch sei eine Kampagne mit großflächigen Wahlplakaten geplant, auf denen Kandidaten mit Migrationshintergrund gemeinsam mit Spitzenkandidat Gregor Gysi zu sehen sind. Neben Ali Al Dailami aus Hessen sollen dort auch Azize Tank, Hakan Taş, Lampros Savvidis (alle aus Berlin) sowie Sevim Dagdelen (NRW) zu sehen sein.
FDP: Keine besonderen Inhalte, aber gezielte Ansprache
Die FDP hat als einzige Partei kein spezielles Kompetenzteam aufgestellt, sondern muss auf das neu gegründete Liberale Forum Vielfalt verweisen, ein parteinaher Verein (bislang ohne Website) unter dem Vorsitz des türkischstämmigen FDP-Bundestagsabgeordneten Serkan Tören. Zwar haben Liberalen eine AG Integration, die allerdings anders als bei anderen Parteien Teil des Bundesfachausschusses Innen und Recht ist. Vorsitzender ist Dieter Kellermann aus Hessen.
In ihrem Parteiprogramm und auf Nachfrage des Mediendienstes nach gezielten Angeboten betont die FDP ihren individuumszentrierten Ansatz. Sie begreife Verschiedenheit als Normalität und stelle daher keine Kandidaten aufgrund persönlicher Merkmale wie ethnische Herkunft auf. Auch beschäftigten sich alle Fachausschüsse auf Bundes- und Landesebene querschnittsmäßig mit den Themen Einwanderung und Bürger mit Migrationshintergrund. Mit anderen Worten: Die Liberalen haben keine zielgruppenspezifischen Inhalte für Menschen aus Einwandererfamilien.
Dennoch werben auch sie gezielt um Wähler mit Migrationshintergrund und nennen dem Mediendienst konkrete Angebote: Die FDP will ihr Wahlprogramm etwa in mehreren Sprachen veröffentlichen, wie bereits 2009 geschehen. Eine gekürzte Version ist damals in fast zehn Sprachen veröffentlicht worden, darunter Englisch, Französisch, Türkisch und Spanisch. Den Wahlkampf wollen die Liberalen zudem eng mit dem Liberalen Forum Vielfalt abstimmen.
Der Integrationspolitik widmet die FDP in ihrem Wahlprogramm ein Kapitel unter der Überschrift “Einwanderung und Integration in einem vielfältigen, offenen Deutschland“.
Von Kemal Hür und Lea Hoffmann
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