Vor einem Jahr wurde das deutsch-indische Migrationsabkommen unterzeichnet – als erstes Abkommen seiner Art zwischen Deutschland und einem Nicht-EU-Staat. Es soll als Blaupause für weitere Abkommen mit anderen Herkunftsländern dienen, um Fachkräfte anzuwerben und irreguläre Migration zu bekämpfen.Quelle
Tatsächlich kommen deutlich mehr Arbeitskräfte aus Indien nach Deutschland. Inzwischen arbeiten hier dreimal so viele (rund 116.000) wie noch vor fünf Jahren. Und: Es sind vor allem Hochqualifizierte, besonders in der IT-Branche. Damit dämpfen sie den Fachkräftemangel. Das Migrationsabkommen dürfte diesen Trend weiter verfestigen.
Mehr Zuwanderung aus Indien als aus Polen
In den vergangenen zehn Jahren zog die Migration aus Indien spürbar an. Indien liegt auf Platz 5 bei der Nettozuwanderung (+40.500; nach Ukraine, Syrien, Afghanistan und der Türkei). Unter den Nicht-Asylländern ist es sogar Platz 1 vor klassischen Migrationsländern wie Polen oder Rumänien.Quelle
Ende Oktober 2023 lebten rund 241.000 indische Staatsangehörige in Deutschland laut Ausländerzentralregister. In einigen Bundesländern, wie etwa Berlin, waren Inder*innen die zweitgrößte Gruppe von Neu-Zugewanderten überhaupt, nach der Ukraine. Ganz überwiegend sind das Menschen, die zum Studieren oder Arbeiten nach Deutschland kommen. Asyl spielt kaum eine Rolle: 759 Asylanträge aus Indien gab es im vergangenen Jahr. Quelle
Ohne Zuwanderung wäre Fachkräftemangel doppelt so groß
Die vorläufigen Zahlen für 2023 zeigen: Mit dem Migrationsabkommen steigt die Zuwanderung aus Indien weiter. Mehr als 48.000 nationale Visa seien 2023 bereits an indische Staatsangehörige erteilt worden, teilte das Auswärtige Amt mit (Stichtag: 22.11.2023). Das sind etwa ähnlich viele wie im Vorjahr.Quelle
Jede*r fünfte indische Beschäftigte arbeitet in der IT-Branche (21 Prozent), das zeigen Zahlen für März 2023. In der "Startup-Hauptstadt" Berlin war es sogar jede*r dritte (29 Prozent). Über alle Branchen hinweg zeigt sich: Zugewanderte aus Indien arbeiten deutlich häufiger auf Hochqualifizierten-Niveau als der Durchschnitt. Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet als Expert*in oder Spezialist*in.Quelle
Auch der "MINT-Herbstreport 2023" zeigt einen gewaltiger Anstieg von Inder*innen in akademischen MINT-Berufen, seit 2012 um fast 700 Prozent auf rund 30.000. Das ist die höchste Beschäftigtenzahl in MINT-Berufen aus einem Nicht-EU-Staat, darunter zwei Drittel als Expert*innen. Ohne die Beschäftigten aus Nicht-EU-Staaten wäre die Fachkräfte-Lücke in Mint-Berufen fast doppelt so groß wie aktuell (700.000 statt aktuell 300.000).Quelle
"Der Effekt verpufft, weil die Verwaltung es nicht umsetzen kann."
"IT-Fachkräfte und Ingenieure aus Indien sind seit jeher begehrt bei Unternehmen hier", sagt die Rechtsanwältin Bettina Offer. Sie berät Unternehmen, die Fachkräfte aus dem Ausland anwerben und einstellen möchten. Aber: Die verstärkte Zuwanderung aus Indien hat für sie nichts mit dem Migrationsabkommen zu tun. "Egal was der Gesetzgeber tut, um die Erwerbsmigration zu verstärken, der Effekt verpufft, weil die Verwaltung es nicht umsetzen kann", so Offer.
Welche Phasen der Migration aus Indien gibt es?
Insgesamt lassen sich vier Phasen unterscheiden:
In den 1950er und 1960er Jahren kamen viele Inder*innen zum Studium nach Deutschland. Die meisten waren Männer, die Ingenieurswesen oder Medizin studierten. Viele verließen das Land danach wieder, andere blieben als gut qualifizierte Arbeitskräfte.
In den späten 1960ern und frühen 1970ern kamen vor allem junge Frauen aus der Region Kerala, um in Deutschland als Krankenschwestern zu arbeiten. Die katholische Kirche hatte sie angeworben und kümmerte sich um Ausbildung und Arbeitsplätze. Als der Bedarf an Krankenschwestern Mitte der 1970er Jahre sank, mussten viele von ihnen das Land verlassen.
Mit Beginn der 1980er Jahre kamen vor allem Inder*innen aus dem Bundesstaat Punjab nach Deutschland, die meisten gehörten zur Religionsgemeinschaft der Sikhs. Viele von ihnen beantragten Asyl und beriefen sich dabei auf die Spannungen zwischen Sikh-Gruppierungen, die einen eigenen Staat forderten, und der indischen Zentralregierung.
Mit Beginn der 2000er Jahre begann dann die Migration der Fachkräfte und Hochqualifizierten.Quelle
Durch die Knappheit der Visums-Termine von Deutschlands Auslandsvertretungen werde die Fachkräfteeinwanderung weiterhin stark behindert. Potentielle Arbeitskräfte müssten teilweise monatelang warten. "Erst gestern hatte ich wieder einen Kollegen, der sich informiert hat wegen einer Person aus Bengaluru. Aber das dauert Monate, bis der einen Termin im Konsulat bekommt. Und es ist für das Unternehmen überhaupt nicht transparent, wie lange es dauern wird." Daran habe auch das deutsch-indische Migrationsabkommen nichts geändert. "Da helfen die besten Wünsche und Abkommen nicht, wenn es am Ende auf der Verwaltungsebene scheitert."
Eine Entwicklung war allerdings in diesem Jahr spürbar: Indien wurde im Juli 2021 aus der Liste von Staaten gestrichen, in denen nach WHO-Einschätzung ein Mangel an Gesundheits- und Pflegepersonal besteht. Damit ist es erstmals vertraglich geregelt, dass indische Pflegekräfte im Einvernehmen mit der indischen Regierung und im Rahmen des "Triple-Win"-Projekts - einer Kooperation der Bundesagentur für Arbeit und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) - angeworben werden. "Die Maßnahme führt dazu, dass eine ganz neue Berufsgruppe indischer Fachkräfte nach Deutschland kommt, nämlich die Pflegekräfte", sagt Rechtsanwältin Offer.
Diverse Reformen sollen Fachkräfteeinwanderung erleichtern
Das Migrationsabkommen von Ende 2022 ist nicht die einzige Reform, die die Fachkräfteeinwanderung begünstigen sollte. Bereits im März 2020 trat das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) in Kraft. Im Zuge des FEG können Menschen aus Nicht-EU-Staaten, die einen anerkannten Berufsabschluss besitzen, zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Diese Fachkräftestrategie wurde im Jahr 2023 mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz fortgesetzt.
Auf EU-Ebene gibt es die sogenannten Blauen Karten, sozusagen das europäische Pendant zur US-amerikanischen "Green Card". Mit ihnen können Hochqualifizierte aus Nicht-EU-Staaten ("Drittstaaten") in einem EU-Staat arbeiten. Die meisten Blauen Karten EU für Deutschland gingen an Inderinnen und Inder, insgesamt rund 6.200.Quelle
Neben dem deutsch-indischen Migrationsabkommen gab es also in den letzten Jahren weitere Reformen, die den bestehenden Trend verstärkt haben dürften. Außerdem dürften "Netzwerk-Effekte" eine Rolle spielen. Dadurch verstärkt sich Migration gewissermaßen selbst. Migrant*innen, die bereits in einem Land arbeiten, dienen als "Brückenbauer" für andere. Sie bieten Hilfe bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche. Indische Menschen sind stark in solche Netzwerke eingebunden, wie ein Forscher betont.
Regionale Schwerpunkte der Migration aus Indien sind vor allem die Ballungszentren Berlin (25.000), München (16.000) und Frankfurt am Main (11.000). Eine wichtige Rolle spielen hier die Hochschulen, denn viele indische Staatsangehörige kommen zum Studieren nach Deutschland. Mehr als 35.000 Inder*innen studieren in Deutschland. Nur aus China kamen noch mehr Studierende. Sie dürften einen wichtigen Beitrag leisten, um auch in Zukunft den Fachkräftemangel in Deutschland zu dämpfen.
Von Miriam Sachs und Carsten Wolf
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