Fluchtrouten

"Kurz vor der EU-Grenze ist es am gefährlichsten"

Die meisten Geflüchteten, die in der EU Schutz suchen, kommen nicht über Routen, die direkt aus ihrer Heimat nach Europa führen: Ihre Reisen sind lang, gewunden und oftmals sehr gefährlich – besonders kurz vor dem Ziel, sagen Expert*innen bei einem Mediendienst-Pressegespräch.

Mehrere Regierungen in der Europäischen Union arbeiten daran, irreguläre Einwanderung in die EU zu stoppen. Zu diesem Zweck haben sie entlang der Haupt-Flucht- und Migrationsrouten etwa 1.800 KilometerZäune und Mauern errichtet, um Grenzübertritte zu verhindern. Trotz der verschärften Grenzkontrollen reisen weiterhin Menschen irregulär in die EU – oftmals in extrem gefährlichen Situationen.

"Fluchtrouten sind in einem ständigen Wandel", sagt Laura Bartolini, Analyse-Koordinatorin für die "Displacement Tracking Matrix" (DTM) der Internationalen Organisation für Migration (IOM), bei einem Pressegespräch des MEDIENDIENSTES. So seien im ersten Halbjahr 2024 deutlich weniger Personen über die sogenannte zentrale Mittelmeer-Route nach Italien gekommen. Gleichzeitig ist die Zahl der Personen gestiegen, die die gefährliche Route aus Westafrika zu den Kanarischen Inseln versuchen. "Diese Entwicklung ist sehr besorgniserregend, denn allein im ersten Halbjahr 2024 sind mindestens 478 Personen auf dieser Route gestorben", so Bartolini.

Eine weitere Fluchtroute, die 2024 an Bedeutung gewonnen hat, führt von Belarus über Polen nach Deutschland. 2021 hat die belarusische Regierung angefangen, Personen aus Drittstaaten anzuwerben und sie zum Teil durch Anwendung von Gewalt dazu gezwungen, die EU-Grenzen zu überschreiten. Die polnische Regierung hat daraufhin die Grenzkontrollen verschärft und einen 186 Kilometer langen Grenzzaun gebaut. Die Zahl der Grenzübertritte ist seitdem stark zurückgegangen. Seit März 2024 steigt sie wieder an.

"Auch hier sehen wir eine ständige Evolution der Fluchtmigration", sagt Mateusz Krępa, Migrationsforscher am Zentrum für Migrationsforschung (CMR) der Universität Warschau. Während 2021 vor allem Menschen aus dem Irak, dem Iran und Syrien diese Routen nutzten, kommen inzwischen Personen aus mehr als 40 verschiedenen Ländern über die Belarus-Route – darunter Menschen aus Afghanistan, Indien, Somalia, Äthiopien, Kongo und dem Sudan. Derzeit nutzten fast ausschließlich alleinstehende Männer die Route. Das liege daran, dass Personen, die aus anderen Ländern nach Belarus reisen, um in die EU zu gelangen, inzwischen wissen, dass die Route sehr gefährlich sei: Schätzungen zufolge sind in der dicht bewaldeten Grenzregion mehr als 80 Menschen gestorben.

Viele erleben Gewalt, Folter und sexuelle Übergriffe

"Die Routen werden länger, komplizierter und fragmentierter", bestätigt Roberto Forin, Stellvertretender Direktor des "Mixed Migration Centre" (MMC) und Leiter von MMC-Europe. Das MMC hat mehr als 63.000 Migrant*innen und Geflüchtete seit 2019 über ihre Reisen interviewt. Das Bild, das aus der Umfrage hervorgeht, widerspricht mehreren Annahmen über Fluchtrouten. So würden Geflüchtete und Migrant*innen nicht aufgrund eines spezifischen "Pull-" oder "Push"-Faktors das Land verlassen, in dem sie sich befinden. Mehr als die Hälfte der Befragten gibt zwei oder mehr Gründe an – insbesondere die Angst vor Gewalt (60 Prozent der Befragten), den Wunsch, dass ihre Menschenrechte respektiert werden (ca. 45 Prozent) und die Hoffnung auf bessere wirtschaftliche Umstände (40 Prozent).

Viele Personen gelangten nicht direkt aus ihrem Herkunftsland nach Europa. Während der Reise gebe es meistens viele Zwischenstops: "Mehr als die Hälfte der Befragten sagte uns zum Beispiel, dass sie zwischendurch gearbeitet haben, um den Rest der Reise zu finanzieren", so Forin. Die Lebensumstände, Intentionen und Ziele der Migrant*innen und Geflüchteten würden sich deshalb ständig ändern.

Die Mehrheit der Geflüchteten und Migrant*innen hätten während der Reise physische Gewalt, Folter oder sexuelle Gewalt erlebt, sagt Forin. Das belegt auch eine neue gemeinsame Studie von IOM und MMC über die Erfahrungen von Migrant*innen in Afrika. 

"Dabei muss man betonen: Die letzte Strecke kurz vor der EU-Außengrenze kann die gefährlichste sein", sagt IOM-Analystin Laura Bartolini. Hier sei es deutlich schwieriger, eine Fortreise zu organisieren – unter anderem wegen der strengen Grenzkontrollen. Hier seien auch mehrere kriminelle Netzwerke aktiv, die Migrant*innen und Geflüchtete ausnutzen.

"Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die meisten Personen, die gezwungen werden, ihre Wohnorte zu verlassen, nicht nach Europa kommen", betont Bartolini. So seien zum Beispiel die meisten unter den mehr als 10 Millionen Personen, die vor dem Bürgerkrieg im Sudan geflüchtet sind, entweder noch im Land oder in den Nachbarländern Ägypten und Tschad. Dieser Zustand sollte zu einem Umdenken in der Europäischen Union führen, sagt MMC-Europe-Leiter Roberto Forin: "Bis jetzt hat sich die Asylpolitik der EU fast ausschließlich auf Abschottung konzentriert. Viel wichtiger wäre es, etwas zu unternehmen, um humanitäre Katastrophen in Nachbarländern der Krisengebiete zu verhindern."

Von Fabio Ghelli

Weitere Ressourcen
Mediendienst Integration über Migrationsrouten nach Europa: LINK
UNHCR/IOM/MMC-Studie über die Erfahrungen von Migrant*innen und Geflüchteten in Afrika: LINK
Displacement Tracking Matrix (DTM) Data Portal der IOM: LINK
DTM-Report 2023 (IOM): LINK
Missing Migrants Data Portal über Todesfälle entlang der Migrationsrouten: LINK
MMC: Interaktives Data-Portal zur Befragung unter 63.000 Migrant*innen und Geflüchteten: LINK
⇒ "We Are Monitoring" über Pushbacks an der Belarus-Polen Grenze: LINK
IOM über die Situation der Kriegsflüchtlinge aus dem Sudan: LINK