Themenjahr Behinderung

Herausforderung Handicap

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes startet 2013 mit prominenten Botschaftern ein Themenjahr zu Behinderung. Anlass für den Mediendienst Integration, den Fokus auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen aus Einwandererfamilien in dieser Gruppe zu richten. Und hier fällt auf: Bisher erreichen die Hilfsangebote der Pflegedienste sie kaum. Doch es gibt auch zahlreiche vorbildliche Projekte.

 

Melek Civantürk (2. v. l.) und andere Botschafter des Themenjahrs "Selbstbestimmt dabei. Immer." Quelle: BMAS

Am 22. Januar starten die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung das Themenjahr „Selbstbestimmt dabei. Immer.“ Die Initiative soll die Gesellschaft für die Ungleichbehandlung von Menschen mit BehinderungMenschen mit durch die Versorgungsämter anerkannten leichten oder schweren, geistigen oder körperlichen Behinderungen und chronischer ErkrankungMenschen, die auf Grund von Krankheiten wie Diabetes, HIV, MS oder Parkinson mit Einschränkungen leben müssen sensibilisieren.

Zu den prominenten Botschafterinnen des Themenjahres gehört auch das Fotomodell Melek Civantürk, die eine Erkrankung an Lymphdrüsenkrebs überwunden hat. Mit ihr lenkt die ADS die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe, die häufig von "Mehrfachdiskriminierung" betroffen ist: Menschen mit chronischer Erkrankung oder Behinderung UND Migrationshintergrund. Wie viele Menschen mit Behinderung in Einwandererfamilien es genau gibt, ist nicht bekannt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts haben 11,7 Prozent der deutschen Bevölkerung eine BehinderungMit amtlich anerkanntem Behinderungsgrad unter oder über 50 Prozent, siehe auch Infokasten.

Umgerechnet auf die 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland müsste es rund 1,9 Millionen mit Behinderung geben. Dem widersprechen die offiziell verfügbaren Zahlen zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund, wonach nur 5,18 Prozent bzw. 813.000 Menschen mit Migrationshintergrund eine Behinderung haben. Zu diesem ErgebnisAuf Basis des Mikrozensus: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2009. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden 2011 kommen Gudrun Wansing und Manuela Westphal von der Universität Kassel. Allerdings gehen die Wissenschaftlerinnen davon aus, dass diese Zahl zu niedrigManuela Westphal / Gudrun Wansing: Zur statistischen Erfassung von Migration und Behinderung – Repräsentanz und Einflussfaktoren, in: Migration und Soziale Arbeit 4/2012, S. 365-373, S. 366; Westphal / Wansing: Teilhabeforschung, Disability Studies und Migrationsforschung verbinden, in: Orientierung. Fachzeitschrift für Behidnertenhilfe, 1/2012, S. 12-15 ist. Denn die Angabe einer Behinderung ist im Mikrozensus freiwillig und die sogenannte Non-Response-Rate (ohne Angabe) bei der Migrationsbevölkerung sehr hoch.

Hintergrund: Laut Gesetzsind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden von 20 bis 100 abgestuft. Personen, deren Grad der Behinderung mindestens 50 beträgt, gelten als schwerbehindert. Als leichter behindert werden Personen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50 bezeichnet. Kurze Erläuterung des Behinderungsgrads und Anzahl der betroffenen Menschen laut Statistischem Bundesamt siehe hier. Tipps für die Verwendung der Begriffe in der Berichterstattung gibt die Website leidmedien.de.

Zumindest eines ist sicher: dass Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund zwar Hilfe benötigen, sie aber oft nicht bekommen. Vor etwa fünf Jahren begannen die ersten Hilfs- und Beratungseinrichtungen für Menschen mit Behinderung, deren Einzugsgebiete in Regionen mit hohem Migrantenanteil liegen, sich Fragen zu stellen: Warum waren unter den von ihnen Betreuten kaum behinderte Menschen mit Einwanderungsgeschichte? Und weshalb informierten sich deren Angehörige nur so selten über Hilfsangebote?

Marianne Freistein von der Fachstelle Migration und Behinderung der Arbeiterwohlfahrt Berlin und dem Fachforum Menschen mit Behinderung und Zuwanderungsgeschichte geht von hohen Barrieren beim Zugang von Migrantenfamilien zu den bestehenden Angeboten aus. Mit der Folge, dass viele Kinder mit Behinderung und Migrationshintergrund – und ihre Angehörigen – sozial isoliert und mit der Situation überfordert sind. "Das Problem wurde in vielen Einrichtungen lange nicht richtig wahr genommen", sagt Freistein.

Auch in die Öffentlichkeit ist die Problematik bisher kaum gelangt. Sozialeinrichtungen, Praktiker und WissenschaftlerWie Günter Heiden von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Marianne Pieper und Jamal Haji Mohammadi vom Netzwerk Partizipation Mehrfach Diskriminierter Menschen der Universität Hamburg und Monika Seifert von der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft haben mittlerweile begonnen, nach den Ursachen zu suchen. Als Gründe, warum Familien mit Migrationshintergrund bisher nur unzureichend von den Hilfseinrichtungen erreicht werden, vermuten die Experten:

  • Sprachbarrieren: In den Einrichtungen fehlt es bisher häufig an Personal mit entsprechenden Sprachenkenntnissen, um Nicht-Muttersprachler zu beraten. Informationsmaterial zu den Hilfs- und Betreuungsangeboten ist meist nur auf Deutsch verfügbar. Ein schwer verständlicher Fachjargon, in dem dieses häufig verfasst ist, kommt hinzu
  • Bürokratische Hürden: Familien, die Hilfe in Anspruch nehmen wollen, scheitern auch an den Ämtern. Die Regelungen und Verfahren, um etwa Pflegestufen und Behindertenausweise zu beantragen, sind aufwendig und kompliziert.
  • Interkulturelle Hürden: liegen häufig in den Hilfsleistungen selbst, etwa wenn sie nicht geschlechtsspezifisch sind oder Angehörige nicht in den Pflegeprozess eingebunden werden. Das Vordringen oft wechselnden Pflegepersonals in die Privatsphäre der Familien sowie sprachliche und kulturelle Verständigungsschwierigkeiten mit diesem, können ebenfalls eine Rolle spielen.

Good Practice

Projekte, die in diesem Bereich vorbildlich arbeiten, gibt es vor allem auf der Ebene der Städte und Kommunen. In Berlin bieten beispielsweise die Beauftragten für Migration und für Menschen mit Behinderung im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gemeinsam Beratungen für Betroffene an. Auch im Bezirk Neukölln wurde eine interkulturelle Beratungsstelle eingerichtet. An fünf Tagen die Woche werden Menschen mit Handicap und Einwanderungsgeschichte und ihre Familien beraten, von Mitarbeitern, die selbst einen Migrationshintergrund haben und türkisch und arabisch sprechen. Das Fachforum Menschen mit Behinderung und Zuwanderungsgeschichte ist ein ebenfalls in Berlin angesiedelter Zusammenschluss von Organisationen aus dem Bereich der Behindertenarbeit, von Migrantenorganisationen und der Berliner Verwaltung.

Viele Betroffene haben sich mittlerweile auch selbst organisiert. Zu ihnen gehört Mohammed Nasser aus Berlin-Neukölln. Eines seiner drei Kinder ist schwerbehindert. „Nach der Geburt entstand bei uns eine große Leere, gefolgt von Angst, Sorge und Unsicherheit. Ein seelischer Schock war da“, schreibt Nasser auf seiner Internetseite. Ein halbes Jahr versorgten er und seine Frau ihre Tochter Houda zu Hause. Bis sie sich endlich durch die Bürokratie gekämpft hatten und von der dann bewilligten Unterstützung einen Pflegedienst bezahlen konnten. Dass die Sozialdienste ihre Informationen nur auf Deutsch bereitstellten und oft verständnislos reagierten, wenn er und seine Frau um weibliche Pflegekräfte baten, bewog ihn dazu, einen eigenen Verein ins Leben zu rufen. Mit Huda e.V.unterstützt er nun Väter mit Migrationshintergrund im Umgang mit ihren schwerstbehinderten Kindern. Für sein Engagement wurde Nasser mit dem InterDialogPreis 2010/11 ausgezeichnet. 

Seit ein paar Jahren bessern auch die Sozialdienstleister und Hilfseinrichtungen nach. Die Berliner Werkstätte für Behinderte begann 2009 recht früh den Umbau zur „kultursensiblen Werkstatt“. Heute werden Informationen in bis zu zehn Sprachen angeboten, die Mitarbeiter mit Behinderung berichten in Kursen über ihre Kultur und Identität, und das islamische Pflichtgebet kann am Arbeitsplatz verrichtet werden. Wichtigstes aktuelles Projekt ist, sich auch auf die jüngste Zuwanderergruppe einzustellen – Roma aus Osteuropa.

Auch anderenorts gibt es inzwischen ähnliche Projekte. In Hannover zum Beispiel betreibt die Selbsthilfegruppe UMUT ein Patenschaftsprojekt für behinderte Kinder. In Nürnberg berät der Türkisch-Deutsche Verein zur Integration behinderter Menschen betroffene Familien, fördert deren Austausch und Vernetzung und gibt Fortbildungen zum Thema. In Stuttgart gibt es das interkulturelle Kindergästehaus, in dem vierzig Prozent der betreuten Kinder eine Migrationsgeschichte haben.

Von Markus Reichert


Links und Ansprechpartner:

Antidiskriminerungsstelle des Bundes, Pressestelle Tel.: 030 18 555 1805, E-Mail: presse​ads.bund.de, http://www.antidiskriminierungsstelle.de

Die Rehabilitationswissenschaftlerin Gudrun Wannsing und die Migrationsforscherin Manuela Westphal arbeiten an der Universität Kassel gemeinsam zu Behinderung und Migration.

Marianne Freistein, Leiterin der Fachstelle Migration und Behinderung der Arbeiterwohlfahrt Berlin und Ansprechpartnerin des Fachforums Menschen mit Behinderung und Zuwanderungsgeschichte.

Günter Heiden, Öffentlichkeitsarbeit der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben

Marianne Pieper und Jamal Haji Mohammadi Netzwerk Partizipation Mehrfach Diskriminierter Menschen an der Universtität Hamburg.

Monika Seifert, Vorsitzende der Deutsche Heilpädagogischen Gesellschaft.

Initiativen:

Huda e.V., Hürden überwinden durch Austausch, Mohammed Nasser (Vorstandsvorsitzender), Tel.: 030 284 784 93, 0176 – 997 676 83.

InterAktiv e.V., interkultureller Verein, der sich für eine inklusive Gesellschaft, mehr Lebensqualität, Selbstbestimmung, Chancengleichheit und Teilnahme für/ von Menschen mit Behinderung und insbesondere mit Migrationshintergrund einsetzt, Tel.: 0177 890 35 16, 030 99 54 64 38, Mail: info​interaktiv-berlin.de.

Fachforum Menschen mit Behinderung und Zuwanderungsgeschichte, Zusammenschluss von Organisationen aus der Hilfs- und Beratungsarbeit für Menschen mit Behinderung, Migrantenorganisationen und Berliner Verwaltung.

Berliner Werkstätte für Behinderte.

Paternschaftsprojekt für Kinder mit Behinderung der Selbsthilfegruppe UMUT in Hannover.

Türkisch-Deutscher Verein zur Integration behinderter Menschen Nürnberg.

Interkulturelles Kindergästehaus in Stuttgart, in dem vierzig Prozent der betreuten Kinder eine Migrationsgeschichte haben.

Studien:

Berliner Kundenstudie der Katholischen Hochschule für Sozialwesen, Berlin 2010. Zu beziehen hier.

Im Fokus – Behinderung und Migration. Vier Modellprojekte in Süddeutschland. Berichtsband der Paul-Lechler-Stiftung, Ludwigsburg 2010. Zum Download hier.

Zugangswege in der Beratung chronisch kranker und behinderter Menschen mit Migrationshintergrund. Feldstudie der Stiftung Lebensnerv, Berlin 2009. Zum Download hier.

Manuela Westphal / Gudrun Wansing: Zur statistischen Erfassung von Migration und Behinderung – Repräsentanz und Einflussfaktoren, in: Migration und Soziale Arbeit 4/2012, S. 365-373.

Westphal / Wansing: Teilhabeforschung, Disability Studies und Migrationsforschung verbinden, in: Orientierung. Fachzeitschrift für Behidnertenhilfe, 1/2012, S. 12-15.

Workshop:

„Herausforderung Inklusion – Partizipationschancen mehrfach diskriminierter Menschen am Arbeitsmarkt“, am 06.02.2013 an der Universität Hamburg. Mehr Infos zur Veranstaltung hier.