Über Kurden in Deutschland berichten

In Deutschland leben schätzungsweise 1,3 Millionen Kurd*innen. Obwohl es sich um eine der größten Einwanderungsgruppen Deutschlandshandelt, sind sie und ihre Erfahrungen in Deutschland bislang wenig sichtbar. Wie lässt sich eine differenzierte Berichterstattung über Kurd*innen gestalten?

BEI DER RECHERCHE

Prof. Çinur Ghaderi ist eine der wenigen Professor*innen in Deutschland, die seit Jahren zu Kurd*innen in Deutschland forschen. In einer Expertise (2023) für den MEDIENDIENST hat sie gemeinsam mit der Medienforscherin Esther Almstadt die aktuellsten Forschungsergebnisse zusammengefasst. Für die journalistische Recherchesind insbesondere folgende Aspekte interessant:
1. Mit geschätzt 1,3 Millionen Personen stellen Kurd*innen eine der größten Einwanderungsgruppen Deutschlands dar. Diese Tatsache ist oft nicht bekannt, da Kurd*innen nicht statistisch erfasst werden. Denn bei Erhebungen wird nur die Staatsangehörigkeit berücksichtigt - und einen kurdischen Staat gibt es nicht. Kurd*innen besitzen entweder die deutsche Staatsangehörigkeit, die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes oder sind staatenlos.
2. Kurd*innen migrieren bereits seit mehr als 100 Jahren nach Deutschland, meist aufgrund von Konflikten in den Herkunftsländern. Sie sind vornehmlich aus der Türkei nach Deutschland eingewandert, aber auch aus dem Irak, Syrien und Iran. Ein kleinerer Teil kommt aus dem Libanon, Israel und ehemaligen Sowjetrepubliken wie Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Kurdische Geflüchtete stammen vorwiegend aus Syrien und dem Irak.
3. Es gibt keine repräsentativen Daten über die Religion der in Deutschland lebenden Kurd*innen. Die meisten sind sunnitische Muslime, es gibt aber auch Aleviten, Eziden, Faily-Schiiten, Christen, Juden, Zardaschti oder Ahl-i Haqq. Ein Großteil der Kurd*innen in Deutschland lebt säkular. Sie identifizieren sich eher mit der starken politischen kurdischen Bewegung.
4. Kurd*innen leben vorzugsweise in den Großstädten der West-Bundesländer, nach Möglichkeit in der Nähe von Verwandten oder Communities ihrer Herkunftsregion. Sie arbeiten häufig in körperlichen Berufen und im Kleingewerbe. Bei Existenzgründungen (z.B. Reisebüros, Transportunternehmen, Lebensmittelgeschäften, Schönheits- und Friseursalons) handelt es sich oft um Familienbetriebe. Daneben gibt es eine Elite von akademischen Berufen und Künstler*innen.
5. Kurd*innen identifizieren sich stark mit der deutschen Gesellschaft. Dies spiegelt sich auch in der politischen Partizipation wider: Es gibt kurdischstämmige Abgeordnete auf kommunaler sowie Landes- und Bundesebene.
6. Kurd*innen erfahren Rassismus und Diskriminierung in unterschiedlichen Ausdrucksformen, u.a. abwertende Blicke, Beleidigungen, Hass- und Vernichtungswünsche, Prügel auf dem Schulhof, Benachteiligung in Asylunterkünften, Benachteiligung und Mobbing am Arbeitsplatz bis hin zu gewaltsamen Übergriffen und Morddrohungen. Verbreitet sind Vorurteile, die versuchen, Kurd*innen als unwissend, wild, gewaltaffin oder kriminell abzuwerten.
Mehr zur Forschung finden Sie hier (PDF). Das Dossier steht hier zur Verfügung. Der Mediendienst vermittelt für die Berichterstattung Kontakte zu Expert*innen innerhalb von 30 Minuten.

IM ARTIKEL

1. "Unsichtbarkeit" von Kurden und Kurdinnen auf dem Schirm haben: Kurd*innen bleiben oft unsichtbar: In Statistiken werden sie nicht erfasst, und aufgrund von Diskriminierungen überlegen sie es sich genau, wann und wo sie sich als Kurd*innen zu erkennen geben. Ihre Lebensmittelläden und Restaurants werden häufig als 'türkische Geschäfte' oder 'nahöstliche Restaurants' wahrgenommen und bleiben aus Existenzangst oft bewusst unklar gekennzeichnet - ebenso in anderen beruflichen Kontexten. Nach dem Attentat in Hanau im Februar 2020 wurden die kurdischen Opfer unter türkischer Flagge beerdigt.
2. Historische Dimension der "Unsichtbarkeit" berücksichtigen: Die Unsichtbarkeit oder Dethematisierung des Kurdischen knüpft an eine lange Geschichte von Unterdrückung der Kurd*innen an: Bereits in den Herkunftsländern haben sie meist Diskriminierung und Verbote der kurdischen Sprache erlebt.
3. Rassistische Stereotypisierungen vermeiden: Die Medienforschung hat gezeigt: Über Kurd*innen in Deutschland wird häufig in Zusammenhang mit („Clan“-)Kriminalität und Gewalt berichtet – ein Drittel der bislang untersuchten Artikel in Leitmedien behandeln diese Themen. Diese Pauschalisierung verstärkt Vorurteile gegen diese Personengruppe („Verdachtsgemeinschaft").
4. Anti-kurdischen Rassismus benennen: Die Diskriminierungserfahrungen von Kurd*innen geraten selten in den Fokus. Anti-kurdischer Rassismus ist bisher in Wissenschaft und Praxis der psychosozialen Arbeit sowie der rassismuskritischen Bildungsarbeit kaum behandelt worden. Journalist*innen können mit einer differenzierten Berichterstattung das Bewusstsein für die besonderen Herausforderungen, mit denen Kurd*innen konfrontiert sind, stärken.

LINKS & QUELLEN


Kurden in Deutschland
• MEDIENDIENST-Expertise (2023): Kurden in Deutschland / Ghaderi; Almstadt
• MEDIENDIENST Integration (2023): Kurden in Deutschland /
• MEDIENDIENST-Dossier: Kurden in Deutschlandhttps://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/MEDIENDIENST_Herkunftsnennung_Expertise_Walburg_Singelnstein_final.pdf

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