Über "Clankriminalität" berichten

Arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Die Familien werden oft als "kriminelle Clans" beschrieben. Wie kann man angemessen über Angehörige der Großfamilien und das Thema "Clankriminalität" berichten?

BEI DER RECHERCHE

Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit über neun Jahrenzu den arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien (sogenannte Mḥallamīya). Er hat Mitglieder der Familien über mehrere Jahre hinweg begleitet und interviewt. Ebenso sprach er mit Sicherheitsbehörden und Sozialarbeiter*innen. In einer Expertise (2024) für den MEDIENDIENST stellt er die Ergebnisse seiner Forschung vor. Aus der Expertise ergaben sich folgende Hinweise für die Berichterstattung:
1. Die Großfamilien sind keine zusammenhängende, homogene Gruppe. Die ursprünglich nahen Verwandtschaftsverhältnisse der Großfamilien haben sich über die Jahrzehnte ausdifferenziert. Heute kennen sich die meisten Familienmitglieder untereinander nicht. Es gibt auch keine zentrale Führungsperson des jeweiligen „Gesamt-Clans".
2. Wenn es unter Angehörigen der Großfamilien starke Familienverbünde gibt, handelt es sich nicht um einen „Gesamt-Clan" (etwa „Miri", „al Zein" oder „Remmo"), sondern um „Sub-sub-Clans", sogenannte bayts. Auf dieser Ebene gibt es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und teilweise auch zentrale Führungspersonen.
3. Anders als medial und polizeilich oft dargestellt findet Kriminalität nicht innerhalb der „Clans“ statt, sondern innerhalb von „Sub-Sub-Clans“.
4. Die polizeiliche Darstellung der Kriminalität aus "ethisch abgeschotteten Subkulturen" ist irreführend. Dort, wo es unter Angehörigen der Großfamilien zu Kriminalität oder organisierter Kriminalität kommt, ist eine starke Vernetzung in die Mehrheitsgesellschaft und mit anderen ausländischen Akteuren zu beobachten.
5. Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell. Sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik und suchen diese oft auch aktiv. Viele andere Angehörige der Großfamilien kritisieren diese Kriminalität und wünschen sich eine gezielte Kriminalitätsbekämpfung ohne unter Generalverdacht gestellt zu werden.
6. Die meisten Frauen der ersten Einwanderergeneration (1980er) aus den Familien sind in stark patriarchale familiäre Strukturen eingebunden. Viele haben kaum Bildung genossen und wenig Chancen auf Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe. Dies ändert sich in den jüngeren Generationen langsam.
7. Die als „Clans“ bezeichneten Großfamilien blicken auf eine lange Geschichte von Marginalisierung und Ausgrenzung zurück – sowohl in ihren Herkunfts- als auch Zufluchtsländern. In Deutschland erleben sie erhebliche Diskriminierung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei.
Die Innenministerien und Polizeibehörden von Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben die „Clankriminalität" in den letzten Jahren als Schwerpunktthema etabliert, was einen intensiven polizeilichen Diskurs zur Folge hat. Eine Analyse der Lagebilder zeigt allerdings:
1. „Clankriminalität“ ist weder mit Organisierter Kriminalität gleichzusetzen, noch ist es eine Unterkategorie von Organisierter Kriminalität. Anders als Organisierte Kriminalität umfasst „Clankriminalität" alle möglichen Verstöße gegen Straftat- und Ordnungswidrigkeitstatbestände von Personen, die als „Clan“-zugehörig markiert werden – egal, ob die Tat alleine oder gemeinsam begangen wird und unabhängig von der Schwere des Vergehens.
2. Die als „Clankriminalität“ zusammengezählten Straftaten machten 2022 in den drei Bundesländern zwischen 0,17 und 0,76 Prozent der Gesamtkriminalität aus. Dieser Anteil besteht zum Hauptteil aus Ordnungswidrigkeiten, Verkehrsdelikten und Allgemeinkriminalität.
3. Die Polizeiarbeit und die Lagebilder in Berlin und NRW fokussieren auf bestimmte migrantische Bevölkerungsgruppen. Laut Kriminolog*innen und Jurist*innen sei der Fokus auf „ethnische Gruppen" verfassungsrechtlich bedenklich und zudem uneffektiv bei der Bekämpfung von Kriminalität.
Mehr zur Forschung finden Sie hier (PDF). Ein Kurz-Video aus unserem Hintergrundgespräch mit Mahmoud Jaraba finden Sie hier (Video). Der Mediendienst vermittelt für die Berichterstattung Kontakte zu Expert*innen innerhalb von 30 Minuten.

IM ARTIKEL

1. Viele Mitglieder der betroffenen Großfamilien empfinden den Begriff „Clan“ als stigmatisierend und lehnen ihn ab. Die Begriffe "Clan" und „Clankriminalität“ sollten kritisch hinterfragt werden.
2.  Es ist unverhältnismäßig, „Clankriminalität" als das zentrale Sicherheitsproblem Deutschlands darzustellen: „Clankriminalität" ist nicht gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität und stellt zudem nur einen kleinen Anteil an Gesamtkriminalität dar.
3. "Arabische/türkische/kurdische Großfamilien“ sollten nicht pauschal mit der Kriminalität einiger Familienangehöriger in Verbindung gebracht werden. Nur wenige Angehörige von Großfamilien sind kriminell. Straftaten werden entweder von Einzelperson oder innerhalb eines bestimmten "Sub-Sub-Clans" oder verwandtschaftsunabhängig vorbereitet und verübt. Der Großteil der Familienangehörigen distanziert sich von kriminellem Verhalten.
4. Pauschalisierungen der Großfamilien sollten vermieden werden, denn sie haben Konsequenzen: Ihre Angehörigen fühlen sich stigmatisiert und erfahren erhebliche Diskriminierung in der Schule, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
5. Journalist*innen können über Angehörige von Großfamilien als Mitbürger*innen berichten: Welche Ausbildungen und Jobs haben sie? Welche Diskriminierungserfahrungen haben sie gemacht?
6. Nach Razzien gegen „Clans“ lohnt es sich, bei der Polizei nachzufragen, was Anlass und Ergebnis der Razzia waren.

LINKS & QUELLEN

Presserat Richtlinien zum Thema Herkunftsnennung bei Straftaten
• Richtlinie 12.1. des Pressekodex / Deutscher Presserat, Link
• Praxis-Leitsätze zur Richtlinie 12.1 / Deutscher Presserat, Link
• Recherche-Datenbank, Deutscher Presserat, Link
Clankriminalität / Kriminalität und Migration / Herkunftsnennung
• MEDIENDIENST-Expertise (2024): Clankriminalität / Jaraba
• MEDIENDIENST Integration (2024): Clankriminalität: Polizeiarbeit und Lagebilder
• MEDIENDIENST Integration (2023): Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft
• MEDIENDIENST Integration (2023): Wie oft nennen Medien die Herkunft von Tatverdächtigen?
• MEDIENDIENST-Expertise (2022) : Zwischen Stürmerstars und Gewalttätern / Hestermann
• MEDIENDIENST-Expertise (2021): Sollten Medien die Herkunft von Tatverdächtigen nennen? / Walburg, Singelnsteinhttps://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/MEDIENDIENST_Herkunftsnennung_Expertise_Walburg_Singelnstein_final.pdf

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