Sind Sozialleistungen ein Pull-Faktor?

Ob die Höhe von Sozialleistungen beeinflusst, in welches Land Migranten oder Geflüchtete gehen, ist in der Wissenschaft umstritten. Die wichtigsten Studien im Überblick.

Sozialleistungen für Geflüchtete werden in der Debatte über Migration immer wieder als ein sogenannter Pull-Faktor genannt. In der Forschung ist das jedoch umstritten.

Was sind "Pull-Faktoren"?

Das Modell von "Push-" und "Pull-Faktoren" geht auf den US-amerikanischen Soziologen Everett Lee zurück. In seiner "Theory of Migration" von 1966 stellt er negative und positive Faktoren im Herkunfts- und Zielland gegenüber, die eine "anziehende" und "abstoßende" Wirkung haben können. Laut Lee gibt es auch neutrale Faktoren, die für Migration nicht ausschlaggebend sind, hinzu kommen etwa persönliche Faktoren. In der Migrationsforschung wird das Modell bereits seit den 1980er Jahren als unzureichend angesehen, da es die komplexen Prozesse der Migration stark vereinfache.QuelleLee, Everett S. (1966): "A Theory of Migration", S. 50, LINK; Wissenschaftliche Dienste des Bundestags (2020): "Push- und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung", LINK

Sind Sozialleistungen tatsächlich ein "Pull-Faktor"?
In der Forschung wird die Annahme, dass Migrant*innen aufgrund sozialstaatlicher Leistungen ihr Zielland auswählen, als "Welfare Magnet Hypothesis" bezeichnet. In einer Studie der Princeton Universität 2019 stellten Forscher*innen fest, dass nach Kürzungen oder Anhebungen der Sozialleistungen in Dänemark zwischen 2002 und 2015 die Einwanderung zurückging beziehungsweise anstieg2002 wurden Leistungen für Migrant*innen aus Nicht-EU-Staaten um rund die Hälfte gekürzt, 2012 wurde dies nach einem Regierungswechsel zunächst wieder rückgängig gemacht und 2015 die Leistungen erneut eingeschränkt.. Durch die Kürzungen um bis zu 50 Prozent sank die Zuwanderung um rund 3,7 Prozent.QuelleAgersnap et al. (2019): "The Welfare Magnet Hypothesis: Evidence From an Immigrant Welfare Scheme in Denmark", S. 1f., LINK

An der Studie gibt es Kritik. Denn sie berücksichtigt andere Einflüsse nicht, die sich auf Migration auswirken können: Dass gleichzeitig der Familiennachzug eingeschränkt wurde, blieb außen vor. Eine der Haupt-Immigrant*innengruppen wurde außerdem nicht berücksichtigt: Menschen aus Bosnien-Herzegowina, die nach dem Jugoslawien-Krieg nach Dänemark kamen.Quellevgl. MEDIENDIENST INTEGRATION (2023): "Demokratie ist ein Pull-Faktor", LINK

Andere Studien konnten keine oder nur sehr begrenzte Belege finden, dass Sozialleistungen ein entscheidender Faktor sind. Eine größere Rolle spielen etwa Menschenrechte:

  • Für eine Studie 2023 der HU Berlin haben Forschende Migrationsdaten für 160 Länder aus unterschiedlichen Zeiträumen ausgewertet und konnten nicht feststellen, dass höhere Sozialleistungen zu stärkerer Migration führenIn der Studie wurde nicht zwischen unterschiedlichen Migrationsformen, wie Arbeits- und Fluchtmigration, unterschieden.. Stattdessen seien die Größe und Wirtschaftsleistung eines Landes sowie die geographische Lage entscheidend. Auch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die gesprochene Sprache und höhere Gesundheitsausgaben machten ein Land attraktiver.QuelleMüller, Tim (2023): "Evidence for the Welfare Magnet Hypothesis? A global examination", LINK; MEDIENDIENST INTEGRATION (2023): "Demokratie ist ein Pull-Faktor", LINK
  • In einer Studie 2023 hat ein Forschungsteam untersucht, ob unterschiedlich hohe Sozialleistungen in den Schweizer Kantonen die Binnenmigration beeinflussen. Trotz großer Unterschiede in der Höhe der Leistungen konnte nur ein sehr geringer Effekt auf die Mobilität zwischen den Kantonen festgestellt werden.QuelleFerwerda, Jeremy; Marbach, Moritz; Hangartner, Dominik (2023): "Do Immigrants move to Welfare? Subnational Evidence from Switzerland", S. 13, LINK
  • Eine Studie der Australian National University hat Migrationsbewegungen aus 56 Herkunftsstaaten in 19 OECD-Staaten im Zeitraum von 1997 bis 2006 untersucht. Ein Ergebnis: Eine Verschlechterung der LebensbedingungenDazu zählen in der Studie beispielsweise die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen und eingeschränkter Zugang zu Leistungen, aber auch strengere Gewahrsams- und Abschieberegelungen, sowie Einschränkungen von Beschäftigung und Familiennachzug. im Zielland hat keinen Einfluss auf die Anzahl der gestellten Asylanträge. Eine Rolle spielten dafür ein erschwerter Zugang zum Staatsgebiet und strengere AsylverfahrenZu erschwertem Zugang zählen laut der Studie beispielsweise Visabestimmungen und Grenzkontrollen; zu strengeren Asylverfahren zählen unter anderem schnellere Bearbeitungszeiten oder die Bestimmung sogenannter sicherer Drittstaaten. Für eine Übersicht über alle untersuchten Faktoren siehe: Hatton 2009, F212..QuelleHatton, Timothy J. (2009): "The Rise and Fall of Asylum: What Happened and Why?", Economic Journal 119 (535), F206 und F212, LINK
  • Auch Befragungsstudien unter Geflüchteten geben Aufschluss über die Gründe für die Entscheidung, wohin Menschen migrieren. In einer Befragung von Geflüchteten vom IAB, BAMF und SOEP aus dem Jahr 2016 gaben 26 Prozent der Befragten an, dass sie Deutschland aufgrund staatlicher oder sozialer Wohlfahrt als Zielland ausgewählt haben. Die drei wichtigsten Gründe waren die Achtung der Menschenrechte (73 Prozent), das Bildungssystem (43 Prozent) und das "Gefühl, willkommen zu sein" (42 Prozent).QuelleBrücker, H. et al. (2016): "IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Flucht, Ankunft in Deutschland und erste Schritte der Integration" (BAMF Kurzanalyse, 5-2016), S. 4, LINK
  • Dass die Wahrung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit für Geflüchtete bei der Entscheidung für ein Land eine große Rolle spielen, bestätigt auch eine Studie der Universität Sheffield 2016. Auch ob bereits Familie und Freunde im Zielland wohnen und welche Sprache im Zielland gesprochen wird, seien wichtige Faktoren.QuelleUniversity of Sheffield (2016): "Is access to the labour market a pull factor for asylum seekers?", LINK