Herr Knickenberg, wie gelangen Menschen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung nach Deutschland?
Die meisten kommen legal, etwa über ein Visum. Und bleiben dann eben auch, wenn die Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist. Inzwischen wandern auch viele irreguläre Einwanderer krisenbedingt nach Deutschland weiter, die bislang etwa in Spanien oder Portugal gelebt haben.
Es war lange davon die Rede, dass rund eine Millionen Menschen ohne gültige Papiere hier leben. Gibt es verlässliche Zahlen zur irregulären Einwanderung nach Deutschland?
Völlig valide Zahlen gibt es natürlich nicht, denn weder die Behörden noch die Kirchen können dazu eine Statistik führen. Und auch die im neuesten Migrationsbericht genannte Zahl von rund 21.000 unerlaubt eingereisten Personen (S. 196) erfasst ja nicht jene Menschen, die anfänglich legal in Deutschland gelebt haben. Das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut veröffentlicht seit ein paar Jahren regelmäßig Zahlen für Deutschland, die auf dem europäischen Projekt „Clandestino“ basieren, einer Datenbank zur irregulären Migration. Es schätzt, dass in Deutschland zwischen 100.000 und 400.000 irreguläre Einwanderer leben. Darunter sind übrigens zwischen 1.000 und 30.000 schulpflichtige Kinder.
Wie finden die Erwachsenen Arbeit?
Über Verwandte, die bereits hier wohnen, oder über andere Netzwerke. Die Arbeitsmöglichkeiten, die sie hier finden, werden in der Fachliteratur als 3-D-Jobs bezeichnet: dirty, dangerous und demanding, also schmutzig, gefährlich und sehr fordernd. Irreguläre Migranten arbeiten vor allem im Baugewerbe, in Hotels und Gaststätten, aber auch in Privathaushalten. Wer einen irregulären Status hat, gerät schnell in Abhängigkeit zu seinem Auftraggeber. Er wendet sich auch im Fall von schlechten Arbeitsbedingungen, mangelndem Arbeitsschutz oder ausstehenden Löhnen nicht an die Behörden. Besonders labil ist die Situation aber, wenn diese Menschen krank werden, ein paar Tage nicht zur Arbeit kommen und ihren Job verlieren.
Hat sich die Situation irregulärer Migranten in Deutschland in den vergangenen Jahren eher verbessert oder verschlechtert?
Sie hat sich verbessert, vor allem durch zwei entscheidende Veränderungen im Bildungs- und im Gesundheitsbereich. Wir haben uns riesig gefreut, dass Ende 2011 in Schulen und Kitas die Übermittlungspflicht abgeschafft wurde – es muss also nicht mehr behördlich gemeldet werden, wenn dort ein Kind ohne Papiere auftaucht. Jetzt sind allerdings die Bundesländer am Zug. Sie müssen festlegen, dass irregulär in Deutschland lebende Kinder die Schulen besuchen dürfen. Nur eine konkrete Ausformulierung dieser Möglichkeit gibt den Kindern Sicherheit. Andere Probleme bestehen allerdings weiterhin: So müssen irreguläre Migranten in Kitas den Höchstsatz bezahlen, wenn sie keine Verdienstbescheinigung vorlegen können.
Was hat sich im Gesundheitsbereich getan?
Auch die Daten von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung werden aufgrund der neuen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz von 2009 nicht mehr übermittelt, wenn sie in einem Notfall zur Behandlung direkt ins Krankenhaus gehen. Die Regelung gilt aber nicht, wenn der Patient erst im Gesundheitsamt vorstellig wird, weil das übermittlungspflichtig ist. Das ist einerseits gut. Andererseits muss man sich fragen, warum Menschen den Gang zum Arzt aus Angst vor Entdeckung so lange hinauszögern sollen, bis sich ihr Gesundheitszustand stark verschlechtert hat, so dass sie einen Notfall darstellen. Außerdem gibt es bei der Kostenabrechnung zwischen Behörden und Krankenhäusern noch massive bürokratische Schwierigkeiten. Patient und Krankenhaus müssen ausführliche Fragebögen ausfüllen, doch der Patient kann viele der gestellten Fragen überhaupt nicht beantworten oder durch Dokumente belegen.
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Tagung?
Das Katholische Forum „Leben in der Illegalität“ ist der Ansicht, dass es noch einer Reihe von Verbesserungen für die Situation irregulärer Migranten in Deutschland bedarf. Unsere Mitglieder helfen den Betroffenen ganz praktisch. Durch die jährlichen Tagungen haben wir uns aber auch immer stärker mit Wissenschaftlern vernetzt, die über dieses Thema forschen. In diesem Jahr schauen wir etwa auf aktuelle Entwicklungen in ganz Europa und fragen nach Zielen, Mitteln und Bewertungsmaßstäben für ein europäisches Migrationsregime. Aber auch danach, wie kommunale Strukturen und Strategien beim Umgang mit Irregularität helfen können.
Welche Kommunen arbeiten hier vorbildlich?
In Deutschland leisten viele Kommunen wunderbare Arbeit. In München, Köln, Hamburg oder Berlin haben Studien etwa die gesamte Situation oder auch den Aspekt der Gesundheitsversorgung von Papierlosen in den Blick genommen und analysiert, was sich verbessern lässt. Und es ist erstaunlich zu beobachten, was schon jetzt im Rahmen der Gesetze möglich ist, wenn man wirklich etwas ändern will. Für die Niederlande werden auf unserer Tagung zwei Referenten aus Utrecht aufzeigen, wie sie dort ebenfalls Vorbildliches und sogar Preisgekröntes leisten.
Inwiefern ist Strafbarkeit von irregulärer Einwanderung ein Thema?
Wir möchten darüber diskutieren, ob es angemessen ist, den irregulären Aufenthalt in Deutschland als Straftat einzustufen oder ob dies nicht eher in den Bereich der Ordnungswidrigkeit gehört, wie es in den meisten anderen EU-Ländern der Fall ist. Schließlich kommen diese Menschen aus existenziellen Gründen nach Deutschland. Wann Migration legal ist und wann nicht, das entscheiden wir. Dabei spielt auch die sprachliche Dimension eine Rolle. Menschen können nicht „illegal“ sein, sie werden dazu gemacht, also illegalisiert. Deshalb vermeiden wir den Begriff „Illegale“ und nennen diese Menschen irreguläre Migranten oder statuslose Migranten und betonen, dass es allenfalls der Aufenthalt ist, der illegal sein kann.
Johannes Knickenberg ist Geschäftsführer des Katholischen Forums „Leben in der Illegalität“, das 2004 auf Initiative der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz gegründet wurde. Seine Organisation veranstaltet vom 20. bis zum 22. März die 9. Jahrestagung Illegalität, gemeinsam mit dem Rat für Migration und der Katholischen Akademie in Berlin. Titel der diesjährigen Tagung: „Irregularität und europäisches Migrationsregime: zwischen Abwehrmaßnahmen und Unterstützungsangeboten“.
Das Interview führte Rita Nikolow.
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