Seit den 2000er Jahren sind in Deutschland zahlreiche Initiativen zur Förderung des interreligiösen Dialogs entstanden. Sie erfüllen sehr unterschiedliche Aufgaben – von Workshops und Seminaren über Bildungsangebote in Schulen bis hin zu gemeinsamen Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Sie pflegen Kontakte unter anderem zu jüdischen, muslimischen, christlichen, buddhistischen, Hindu-, Eziden- und Bahái-Glaubensgemeinschaften. Ein Großteil ihrer Aktivitäten wird von Ehrenamtlichen geleistet.
Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 und der anschließenden Reaktion des israelischen Militärs im Gaza-Streifen ist die Arbeit vieler Initiativen und Projekte im Bereich interreligiöser Dialog in Deutschland deutlich schwieriger geworden. Der Mediendienst hat bundesweit bei interreligiösen Dialoginitiativen nachgefragt: 15 von 33 angefragten Projekten, Gruppen und Institutionen haben geantwortet. Die Projekte berichten über sehr unterschiedliche Erfahrungen: In einigen Fällen sei der Bedarf nach Austausch zwischen Glaubensgemeinschaften noch stärker geworden. In mehreren Fällen mussten Aktivitäten dennoch eingestellt werden. Etliche Mitarbeiter*innen sprechen von zunehmenden Sorgen und Ängsten.
"In Begegnung und Gespräch bleiben"
Es komme oftmals zu „Missverständnissen“, „Verstimmungen“ und „gegenseitigen Vorwürfen“. Teilnehmer*innen (besonders aus den jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften) hätten sich von den Initiativen zurückgezogen.
Einzelne Projekte mussten wegen interner Spannungen abgebrochen werden: Ein Projekt endete aufgrund der Angst vor Übergriffen. Ein anderes Projekt mit Schulklassen wurde gestoppt, weil die Referentinnen so widersprüchliche Meinungen zum Nahost-Konflikt hatten, dass ein gemeinsames Auftreten in der Schule nicht möglich gewesen sei. In einem dritten Projekt zog sich die jüdische Gemeinde zurück, was ebenfalls zum Ende des Projektes führte. Es entstehe das Gefühl, „trotz gutem Willen nichts richtig machen zu können“, wie die Sprecherin einer Initiative in NRW sagt.
Zugleich betonen mehrere Befragte, wie wichtig es gerade jetzt sei, „in Begegnung und Gespräch zu bleiben“. Dass über die Jahre ein Vertrauensverhältnis entstanden ist, hat sich teilweise ausgezahlt: Manche Projekte intensivierten den Austausch. Die Befragung zeigt, dass die meisten Dialogprojekte bestehen blieben.
Trotz Meinungsverschiedenheiten werde der Dialog „konstruktiv“ fortgeführt, „Sensibilität“ und „Achtsamkeit“ seien gestärkt worden, heißt es beispielsweise bei einem Berliner Projekt. Auch wenn es großen Diskussionsbedarf gebe, sei der Umgang miteinander nach wie vor „grundsätzlich vertrauensvoll“, teilt eine Initiative aus Hamburg mit. Ein Projekt aus Baden-Württemberg berichtet von einem „sehr guten, emotionalen, ehrlichen Austausch“ trotz anfänglicher Sorgen. Die gewachsenen Beziehungen hätte sich „als tragfähig auch in der Krise erwiesen“.
Vier der befragten Projekte haben nach dem 7. Oktober spezifische Angebote zum Thema Krieg im Nahen Osten entwickelt. Ein Projekt hat sich professionelle Beratung zum Thema Umgang mit Konflikten geholt.
"Vertrauen ist das wichtigste"
Pinar Çetin von der Deutschen Islam Akademie (DIA) bekommt derzeit viele Anfragen für Veranstaltungen zum Thema Dialog in Schulen. Die Politologin leitet seit mehreren Jahren Fortbildungen – unter anderem zum Thema Religion. „Vertrauen ist das wichtigste“, sagt Çetin. Um eine Vertrauensbeziehung zu Vertreter*innen verschiedener Glaubensgemeinschaften aufzubauen, brauche man Jahre: „Es braucht unheimlich viel Zeit und Kraft. Ja, man muss zusammenkommen, gemeinsam Veranstaltungen organisieren, sich gegenseitig unterstützen und gemeinsame Ziele verfolgen.“
Auch das interreligiöse Projekt „House of One“ in Berlin bekommt derzeit etliche Anfragen für Bildungsangebote zum Thema Krieg im Nahen Osten in Schulen. Die Konflikte seien nicht neu, sagt der theologische Referent des Projektes, Osman Oers. Sie hätten allerdings aufgrund der jüngsten Eskalation eine neue, viel besorgniserregendere Dimension erreicht: „Wir sehen, dass in Krisenzeiten bestimmte Denkmuster und Feindbilder stärker reproduziert werden.“ Diesen könne man oftmals durch eine gezielte Wissensvermittlung begegnen: „Schüler*innen sind sehr wissbegierig, wenn es um die eigene sowie um andere Religionen geht. Oftmals herrscht aber viel Unwissen. Dadurch kann ein fruchtbarer Boden für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entstehen.“ Deshalb sei es umso wichtiger, die Projekte weiterhin anzubieten und durchzuführen.
Von Lina Steiner
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