In der gesamten Gesellschaft ist Antisemitismus weit verbreitet – das zeigen viele Studien. Immer wieder wird diskutiert, ob Antisemitismus unter Muslim*innen und Menschen mit Migrationshintergrund weiter verbreitet ist als unter Personen ohne Migrationshintergrund oder nicht-Muslim*innen. Die Forschung kommt zu einem gemischten Ergebnis, das zeigt eine Expertise der Antisemitismusforscherin Sina Arnold, in der sie die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema untersucht.
Je nachdem, um welche Ausprägungen des Antisemitismus es geht, lassen sich höhere oder geringere antisemitische Einstellungen feststellen:
- Beim klassischen Antisemitismus ist die Forschungslage bezüglich Menschen mit Migrationshintergrund widersprüchlich: Manche Studien finden höhere, manche niedrigere oder ähnliche Werte im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund. Unter Muslim*innen ist die Forschungslage klarer: Sie weisen allgemein höhere Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus auf als Nicht-Muslim*innen.
- Die Zustimmungswerten für Aussagen aus dem Bereich des Sekundären Antisemitismus sind bei Muslim*innen in den meisten Studien geringer oder vergleichbar mit denen von Nicht-Muslim*innen. Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem wenn sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, stimmen Aussagen aus dem Bereich des Sekundären Antisemitismus größtenteils seltener zu als Menschen ohne Migrationshintergrund.
- Zustimmungswerte für israelbezogenem Antisemitismus sind bei Muslim*innen in Deutschland allgemein höher als unter nicht-Muslim*innen. Innerhalb der Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund bestehen sehr große Unterschiede. Menschen mit Migrationshintergrund außerhalb der EU, vor allem aus der Türkei und arabischen Ländern, zeigen deutlich höhere Zustimmungswerte, die von Menschen mit Migrationshintergrund aus der EU oder Spätaussiedler*innen unterscheiden sich nur in geringem Maß von denen von Menschen ohne Migrationshintergrund.
Zur vollständigen Expertise hier (PDF).
Die Forschung zeigt: Die Kategorie "Migrationshintergrund" ist nur bedingt aussagekräftig. Eine Rolle spielt, aus welchem Herkunftsland und welcher Region Personen kommen – vor allem bei israelbezogenem Antisemitismus. Ein wichtiger Faktor ist die Aufenthaltsdauer: Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen schwindet, je länger Personen in Deutschland leben. Laut Sina Arnold erlernen sie eine "soziale Norm gegen Antisemitismus" und kommen an Schulen mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Kontakt, was sie möglicherweise für das Thema sensibilisiere.
Eine weitere Rolle spielt, ob Personen eingebürgert wurden und ob sie selbst Diskriminierung erfahren haben. Sekundärer Antisemitismus stellt unter anderem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, der familiären Involvierung in der NS-Zeit und gewaltvollen Geschichte dar. Dies sei für Deutsche mit Migrationshintergrund weniger relevant, und für Menschen ohne deutschen Pass umso weniger.
Weitere Studien aus den Jahren 2023 und 2024 bestätigen die Ergebnisse:
- Eine repräsentative Befragung in NRW kommt 2024 zu dem Ergebnis: Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheiden sich nicht hinsichtlich antisemitischer Einstellungen. Unter muslimischen Befragten ergeben sich höhere Zustimmungswerte zu israelbezogenem Antisemitismus im Vergleich zu evangelischen, katholischen und nicht-religiösen Befragten. Beim sekundären Antisemitismus findet die Studie keine erhöhte Zustimmung. Ein weiteres Ergebnis: Antisemitistische Einstellungen sind häufiger bei Personen, die regelmäßig einen Gottesdienst besuchen.Quelle
- Laut der repräsentativen Befragung des Religionsmonitors 2023 stimmen Muslim*innen in Deutschland deutlich häufiger klassischen sowie israelbezogenen antisemitischen Aussagen zu als die Gesamtbevölkerung. Ähnlich hohe Zustimmungswerte zeigen auch buddhistische und hinduistische Befragte. Werte zu sekundärem Antisemitismus liegen nicht vor. Die Zustimmung ist höher bei stark religiösen Personen und Menschen, die selbst zugewandert sind.Quelle
Wichtige Quellen
Arnold (2023): "Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen", LINK
Beyer et al. (2024): "Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024", LINK
Bertelsmann Stiftung (2023): "Religionsmonitor Kompakt: Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt", LINK
Befragung unter Imamen 2017 sowie nicht repräsentative Studie 2016 zu Antisemitismus unter Geflüchteten aus mehrheitlich muslimischen Ländern, beide im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus