Gibt es einen verstärkten Antisemitismus unter Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund?

Studien zeigen: Der „sekundäre Antisemitismus" ist unter Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund weniger weit verbreitet ist als in der Gesamtbevölkerung. Der „israelbezogene Antisemitismus" ist weiter verbreitet.

In der gesamten Gesellschaft ist Antisemitismus weit verbreitet – das zeigen viele Studien. Immer wieder wird diskutiert, ob Antisemitismus unter Muslim*innen und Menschen mit Migrationshintergrund weiter verbreitet ist als unter Personen ohne Migrationshintergrund oder nicht-Muslim*innen. Die Forschung kommt zu einem gemischten Ergebnis, das zeigt eine Expertise der Antisemitismusforscherin Sina Arnold, in der sie die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema untersucht.

Je nachdem, um welche Ausprägungen des Antisemitismus es geht, lassen sich höhere oder geringere antisemitische Einstellungen feststellen:

  1. Beim klassischenDer klassische Antisemitismus ist ein Vorurteil und eine Weltsicht, in welcher Juden*Jüdinnen bestimmte biologische, "rassische" oder kulturelle Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Stereotype verbinden sich häufig zu Verschwörungstheorien. Beispielhafte Aussagen sind etwa: "Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß" / "Die Juden haben etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns." Antisemitismus ist die Forschungslage bezüglich Menschen mit Migrationshintergrund widersprüchlich: Manche Studien finden höhereu.a.Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) (2022): "Antimuslimische und antisemitische Einstellungen im Einwanderungsland - (k)ein Einzelfall?" S. 31f., LINK sowie Mansel, Spaiser (2013): Ausgrenzungsdynamiken. In welchen Lebenslagen Jugendliche Fremdgruppen abwerten, Weinheim/Basel: Beltz, S. 219, 225., manche niedrigere oder ähnliche Werteu.a. Küpper, Krause (Hrsg.) (2016): Gespaltene Mitte - Feindselige Zustände, Bonn:Dietz, S. 68f., LINK; Decker, Kiess, Brähler (Hrsg.) (2012): Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Bonn: Dietz, S. 111, LINK sowie Pickel, Reimer-Gordinskaya, Decker (2019): Der Berlin-Monitor 2019: Vernetzte Solidarität -Fragmentierte Demokratie, Berlin, S. 62f., LINK im Vergleich zu Menschen ohne Migrationshintergrund. Unter Muslim*innen ist die Forschungslage klarer: Sie weisen allgemein höherevgl. u.a. American Jewish Committee (A JC) (2022): Antisemitismus in Deutschland - Eine Repräsentativbefragung, S. 19, LINK. Anti-Defamation League, ADL Global 100 und ADL Middle East; sowie Decker; Kiess; Brähler (2012) Zustimmungswerte zu klassischem Antisemitismus auf als Nicht-Muslim*innen.
  2. Die Zustimmungswerten für Aussagen aus dem Bereich des Sekundären AntisemitismusDer sekundäre Antisemitismus ist eine Form der Judenfeindschaft, die vor allem im Kontext der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen sichtbar wird. Er kann sich etwa in Relativierung oder Leugnung des Holocaust, der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit oder in der rhetorischen Umkehr von Opfern und Tätern äußern. sind bei Muslim*innen in den meisten Studien geringer oder vergleichbarDecker; Kiess; Brähler (2012): Die Mitte im Umbruch, S. 79., LINK, Decker (2019): Der Berlin-Monitor, S. 63f., LINK; Decker, Brähler (Hrsg., 2020): Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2020, Gießen: Psychosozial, S. 238, LINK sowie Anti-Defamation League (2019) mit denen von Nicht-Muslim*innen. Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem wenn sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, stimmen Aussagen aus dem Bereich des Sekundären Antisemitismus größtenteils seltener zuDecker; Kiess, Brähler (2012): Die Mitte im Umbruch, S. 111; Pickel, Reimer-Gordinskaya, Decker (2019): Der Berlin-Monitor, S. 59, 63f., LINK; sowie SVR (2022): Antimuslimische und antisemitische Einstellungen, S. 32, LINK, als Menschen ohne Migrationshintergrund.
  3. Zustimmungswerte für israelbezogenem AntisemitismusKritik an Israel ist antisemitisch, wenn traditionelle Stereotype auf den Staat Israel übertragen werden oder die Politik Israels mit dem NS gleichgesetzt wird; wenn Juden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden oder wenn an israelische Politik andere Standards als an andere Demokratien angelegt werden sind bei Muslim*innen in Deutschland allgemein höherDecker; Brähler (2020): Autoritäre Dynamiken, S. 237f., LINK sowie Pickel, Reimer-Gordinskaya, Decker (2019): Der Berlin-Monitor, S. 64f, LINK als unter nicht-Muslim*innen. Innerhalb der Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund bestehen sehr große Unterschiedevgl.SVR (2022): Antimuslimische und antisemitische Einstellungen, S. 33f., LINK sowie Mansel/Spaiser (2013): Ausgrenzungsdynamiken, S. 220-224, LINK. Menschen mit Migrationshintergrund außerhalb der EU, vor allem aus der Türkei und arabischen Ländern, zeigen deutlich höhere Zustimmungswerte, die von  Menschen mit Migrationshintergrund aus der EU oder Spätaussiedler*innen unterscheiden sich nur in geringem Maß von denen von Menschen ohne Migrationshintergrund.

Zur vollständigen Expertise hier (PDF).

Die Forschung zeigt: Die Kategorie "Migrationshintergrund" ist nur bedingt aussagekräftig. Eine Rolle spielt, aus welchem Herkunftsland und welcher Region Personen kommen – vor allem bei israelbezogenem Antisemitismus. Ein wichtiger Faktor ist die Aufenthaltsdauer: Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen schwindet, je länger Personen in Deutschland leben. Laut Sina Arnold erlernen sie eine "soziale Norm gegen Antisemitismus" und kommen an Schulen mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Kontakt, was sie möglicherweise für das Thema sensibilisiere.

Eine weitere Rolle spielt, ob Personen eingebürgert wurden und ob sie selbst Diskriminierung erfahren haben. Sekundärer Antisemitismus stellt unter anderem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, der familiären Involvierung in der NS-Zeit und gewaltvollen Geschichte dar. Dies sei für Deutsche mit Migrationshintergrund weniger relevant, und für Menschen ohne deutschen Pass umso weniger.

Weitere Studien aus den Jahren 2023 und 2024 bestätigen die Ergebnisse:

  • Eine repräsentative Befragung in NRW kommt 2024 zu dem Ergebnis: Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheiden sich nicht hinsichtlich antisemitischer Einstellungen. Unter muslimischen Befragten ergeben sich höhere Zustimmungswerte zu israelbezogenem Antisemitismus im Vergleich zu evangelischen, katholischen und nicht-religiösen Befragten. Beim sekundären Antisemitismus findet die Studie keine erhöhte Zustimmung. Ein weiteres Ergebnis: Antisemitistische Einstellungen sind häufiger bei Personen, die regelmäßig einen Gottesdienst besuchen.QuelleBeyer et al. (2024): "Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024", S. 31, 38, LINK
  • Laut der repräsentativen Befragung des Religionsmonitors 2023 stimmen Muslim*innen in Deutschland deutlich häufiger klassischen sowie israelbezogenen antisemitischen Aussagen zu als die Gesamtbevölkerung. Ähnlich hohe Zustimmungswerte zeigen auch buddhistische und hinduistische Befragte. Werte zu sekundärem Antisemitismus liegen nicht vor. Die Zustimmung ist höher bei stark religiösen Personen und Menschen, die selbst zugewandert sind.QuelleBertelsmann Stiftung (2023): "Religionsmonitor Kompakt: Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt", S. 5ff., LINK

 

Wichtige Quellen
Arnold (2023): "Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen", LINK
Beyer et al. (2024): "Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024", LINK
Bertelsmann Stiftung (2023): "Religionsmonitor Kompakt: Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt", LINK
Befragung unter Imamen 2017 sowie nicht repräsentative Studie 2016 zu Antisemitismus unter Geflüchteten aus mehrheitlich muslimischen Ländern, beide  im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus