Pressekodex: Wann sollten Medien die Herkunft von Tatverdächtigen nennen?

Der Pressekodex empfiehlt, die Herkunft von Tatverdächtigen nur zu nennen, wenn dafür ein begründetes öffentliches Interesse besteht. Wie Journalisten das abwägen können, haben Kriminologen in einer Expertise ausgearbeitet.

Geregelt ist die Herkunftsnennung in Richtlinie 12.1 des Pressekodex. Demnach soll die Zugehörigkeit eines Tatverdächtigen oder Täters zu einer ethnischen, religiösen oder anderen Minderheit nur dann genannt werden, wenn „ein begründetes öffentliches Interesse“ bestehe. Das sei etwa der Fall, wenn es sich um besonders schwere oder außergewöhnliche Straftaten wie Terrorismus handelt oder wenn Straftaten aus einer größeren Gruppe begangen wurde, in der viele ein gemeinsames Merkmal wie die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gruppe teilen. Der Deutsche Presserat hatte die Regelung 2017 in einer umstrittenen Entscheidung geändert: Zuvor sollte die Herkunft nur dann genannt werden, wenn es einen Zusammenhang zur Tat gab.

Ausländische Tatverdächtige werden in Medien häufiger erwähnt als deutsche. Zahlen und Studien dazu haben wir >>hierzusammengestellt. 

Wann spielt die Herkunft von Tatverdächtigen eine Rolle? Wann nicht? In einer Expertise für den Mediendienst 2021 zeigen die Kriminologen Tobias Singelnstein und Christian Walburg den Forschungsstand zu dieser schwierigen Frage.

Die vollständige Expertise finden Sie hier.
Ein kurzes How To für die Berichterstattung finden Sie hier.

  • Herkunft und Zuwanderungsgeschichte sind "nicht entscheidend" für Kriminalität, so die Forscher. Kriminalität ist Folge einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere der Lebensumstände. Staatsbürgerschaft oder Migrationshintergrund können eine indirekte Rolle spielen. Ob das der Fall ist, lässt sich nur im Einzelfall beurteilen.
  • Journalist*innen sollten die Herkunft nur dann nennen, wenn die Herkunft zum Verständnis des Geschehens wichtig ist ("Erklärungswert") und das schwerer wiegt als die negativen Folgen der Nennung ("Stigmatisierungsgefahr").
  • Ein Beispiel sind die Ausschreitungen in Stuttgart im Juni 2020. Die Mehrheit der ermittelten Tatverdächtigen dürfte in Deutschland aufgewachsen sein: Unter den 100 ermittelten Tatverdächtigen waren 66 Deutsche, darunter 49 Deutsche mit Migrationshintergrund (QuelleInnenministerium Baden-Württemberg (November 2020): Stellungnahme für den Landtag, Drucksache 16/8931, Seite 4). Nach bisherigem Kenntnisstand war das nicht von zentraler Bedeutung für die Erklärung der Vorkommnisse, sagen die Forscher. Wenn Tatverdächtige in Deutschland aufgewachsen sind, gebe es oftmals keinen Grund, den Migrationshintergrund oder die Staatsbürgerschaft zu nennen. 
  • Ein weiteres Beispiel sind Partner*innentötungen, über die in Medien immer wieder sehr ausführlich berichtet wird. In solchen Verbrechen zeigen sich häufig Besitz- und Kontrollansprüche, die bei Einheimischen und Zugewanderten vorkommen. 2019 waren knapp zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen in diesem Bereich Deutsche. Wenn im Einzelfall überholte Vorstellungen wie die "Verteidigung der Ehre der Familie" eine Rolle gespielt haben, kann dies dafür sprechen, dass Medien die Herkunft von Tatverdächtigen erwähnen und diese Bezüge erklären.QuelleBundeskriminalamt (2020): Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung, Berichtsjahr 2019, Seite 29