"Clans": Arabisch-türkische Großfamilien

Sogenannte arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Forschung zeigt: Sie sind keine homogene Gruppe unter der Führung eines Clan-Chefs. Nur wenige Familienangehörige sind kriminell.

Sogenannte arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit mehreren Jahren im Milieu der arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien (sogenannte Mḥallamīya). Er hat Mitglieder der Familien über mehrere Jahre hinweg begleitet und interviewt. Ebenso sprach er mit Sicherheitsbehörden und Sozialarbeiter*innen. In einer Expertise (2021) für den MEDIENDIENST stellt er die Ergebnisse seiner Forschung vor und zeichnet die Geschichte der Familien nach. In einer weiteren Expertise (2023) beschreibt Jaraba die Familienstrukturen und wo dort Kriminalität stattfindet. Zudem geht er Diskriminierungserfahrungen der Familienmitglieder ein.

Die zentralen Ergebnisse:

  • Die Großfamilien sind keineswegs eine homogene Gruppe unter der Führung eines Clan-Chefs. Im Gegenteil: Es gibt Meinungsdifferenzen und Spaltungen unter den Familienmitgliedern. Viele Familienangehörige kennen sich gar nicht.
  • Anders als medial und polizeilich dargestellt findet Kriminalität nicht innerhalb der Großfamilie statt, sondern innerhalb von "Sub-Sub-Clans". Auf dieser Ebene gibt es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und auch zentrale Führungspersonen.
  • Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell, aber sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik und suchen diese oft auch aktiv. Es gibt viel interne Kritik an straffälligen Familienmitgliedern.
  • In Deutschland erleben die Familienmitglieder Ausgrenzung und Diskriminierung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei.

Jaraba schätzt, dass heute zwischen 35.000 und 50.000 Personen in Deutschland den Familien angehören.

Ein Leben in Unsicherheit

Die Geschichte der Familien geht zurück in die Provinz Mardin im Südosten der Türkei. Aufgrund schwieriger Lebensbedingungen und politischer Unterdrückung sind viele von ihnen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dort in den Libanon umgesiedelt. Hier haben sie Diskriminierung und Marginalisierung erlebt – bis der Bürgerkrieg sie Ende der 70er Jahre zwang, das Land in Richtung Europa zu verlassen. Sie kamen als staatenlose Flüchtlinge nach Deutschland, ihre Asylanträge wurden in der Regel abgelehnt. Seitdem lebten viele von ihnen als Geduldete. Sie stießen deshalb immer wieder auf bürokratischen Hürden – etwa bei der Arbeitssuche oder Amtsbesuchen – und konnten sich so kein stabiles Leben aufbauen.

Familienstruktur: Kein einheitlicher "Clan" und kein "Clan"-Oberhaupt

Die "Clans" haben sich im Verlauf der Zeit stark verändert. Vor hundert Jahren waren die "Clans" noch überschaubar und hatten eine zentrale Führung. Mittlerweile haben die einzelnen "Clans" zahlreiche Sub-Gruppen und Sub-Sub-Gruppen (sogenannte bayt). Was unter "Clans" in öffentlichen Debatten verstanden wird, sind oft Gruppen von mehreren hundert oder tausend Personen. Die haben zwar denselben Nachnamen, viele Angehörige kennen sich aber nicht, arbeiten nicht zusammen und halten auch nicht zusammen. Es gebe deswegen auch kein Oberhaupt, welches zentrale Autorität innehabe, so Jaraba. Wenn es Strukturen des Zusammenhalts gebe – in denen teilweise auch Kriminalität stattfindet – passiert das laut Jaraba auf der Ebene der Sub-Sub-Gruppen.

Kritik an straffälligen Familienangehörigen

Manche Angehörige der Großfamilien protzen öffentlich mit kriminellen Aktivitäten. Die meisten Familienmitglieder distanzieren sich Jaraba zufolge aber intern von den kriminellen Verwandten. Einige haben sogar Gruppen und Initiativen gegründet, um die Aktivitäten der straffälligen Mitglieder öffentlich zu verurteilen.

In der Regel wollen Angehörige aber nicht mit der Polizei zusammenarbeiten, so Jarabas Erkenntnis. Sie haben wenig Vertrauen in staatliche Institutionen. Das liegt laut Jaraba unter anderem daran, dass sie sich aufgrund ihres Familiennamens unter Generalverdacht gestellt fühlen. "Um die Menschen für sich zu gewinnen, muss die Polizei Vertrauen zu diesen Gruppen aufbauen und Brücken schlagen", schreibt Jaraba.

Der Begriff "Clans" und "Clankriminalität"

Eine Studie (2023) der Hochschule für Polizei, der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und der Universität Bielefeld stellt fest: Die Begriffe "Clan" und „Clankriminalität“ sind unscharf und als analytische Kategorien problematisch; sie werden wie selbstverständlich verwendet, obwohl ihre Bedeutung ständig wechselt. Oft werde eine Nähe von „Clankriminalität“ zu Organisierter Kriminalität hergestellt. Die meisten Straftaten, die unter „Clankriminalität“ zusammengefasst werden, hätten aber keinerlei Nähe zu Organisierter Kriminalität und seien häufig sogar nur Ordnungswidrigkeiten. Die Berichterstattung zu „Clankriminalität“ geht laut der Studie vorrangig auf das Handeln von Polizei, Politik und Justiz zurück. Das Handeln von „Clans“ oder „Clanmitgliedern“ selber sei selten der Ausgangspunkt für die Berichterstattung.Quelle Hochschule der Polizei u.A. (2023): "Clankriminalität ist Clankriminalität ist Clankriminalität ist Clankriminalität!?", LINK

Zur Expertise:"Arabisch-türkische Großfamilien: Familienstruktur und 'Clankriminalität'" (2023)
Zur Expertise "Arabische Großfamilien und die "Clankriminalität" (20211)
Zum HowTo für Journalist*innen: "Wie über Clankriminalität berichten?"