Die Innenministerien und Polizeibehörden von Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben in den letzten Jahren "Clankriminalität" als Schwerpunktthema etabliert. Im Rahmen der "Politik der 1000 Nadelstiche" führt die Polizei zahlreiche Maßnahmen durch, wie etwa Personen- und Gewerbekontrollen und Razzien. Seit 2018 veröffentlicht Nordrhein-Westfalen jährlich ein "Lagebild Clankriminalität", Niedersachsen seit 2019, Berlin seit 2020.Quelle
Eine Analyse der "Lagebilder" sowie Antworten der zuständigen Innenministerien und Landeskriminalämter auf Anfrage des Mediendienst Integration zeigen:
- "Clankriminalität" ist weder gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität, noch ist es eine Unterkategorie von Organisierter Kriminalität.
- Stattdessen ist es ist eine Über-Kategorie, mit der die Polizei Ordnungswidrigkeiten und Straftaten von Personen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen angehören, zusammenfasst.
- Die Polizeiarbeit und die Lagebilder in Berlin und NRW fokussieren auf bestimmte migrantische Bevölkerungsgruppen.
- Die als "Clankriminalität" zusammengezählten Straftaten machen in den drei Bundesländern zwischen 0,16 und 0,59 Prozent aller Straftaten aus.
Fokus auf bestimmte Bevölkerungsgruppen
"Clankriminalität" ist eine Kategorie, mit der die Polizei Ordnungswidrigkeiten und Straftaten von Personen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen angehören, zusammenfasst. "Clan" wird dabei definiert als "Gruppe von Personen, die durch eine gemeinsame ethnische Herkunft , überwiegend auch verwandtschaftliche Beziehungen , verbunden ist" (Niedersachsen) bzw. als "informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist" (Berlin und NRW).Quelle
Berlin und NRW konkretisieren in ihren Lagebildern, welche "gemeinsamen Abstammungsverständnisse" gemeint sind: Demnach liegt der Fokus auf türkisch-arabischstämmige Großfamilien, soweit diese Bezüge zur Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye oder zum Libanon (NRW) bzw. mhallami-kurdischen, libanesischen oder palästinensischen aufweisen (Berlin).Quelle
"Clankriminalität" ist keine Organisierte Kriminalität
Clankriminalität" wird regelmäßig als Organisierte Kriminalität (OK) beschrieben – sowohl von den Innenministerien der Bundesländer und des Bundes, als auch von Parteipolitiker*innen und Journalist*innen.Quelle
Die Lageberichte "Clankriminalität" zeigen jedoch: "Clankriminalität" ist weder gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität, noch ist es eine Unterkategorie davon. Um Organisierte Kriminalität (OK) handelt es sich, wenn sich mehrere Personen über längere Zeit zusammentun, um Straftaten von erheblicher Bedeutung zu begehen. Unter "Clankriminalität" hingegen fassen die Bundesländer alle möglichen Verstöße gegen Straftat- und Ordnungswidrigkeitstatbestände von Personen, die als „Clan“-zugehörig markiert werden – egal, ob die Tat alleine oder gemeinsam begangen wird und unabhängig von der Schwere des Vergehens. Zwar werden zur „Clankriminalität“ auch OK-Verfahren gezählt – diese stellen aber nur einen kleinen Anteil von „Clankriminalität“ dar. Den Hauptteil machen Ordnungswidrigkeiten, Verkehrsdelikte und Allgemeinkriminalität aus.Quelle
Die neuesten Lagebildern (2025) zeigen folgendes Verhältnis zwischen OK-Verfahren, Allgemeinkriminalität und Ordnungswidrigkeiten:
Berlin
Für das Jahr 2024 war die Erhebung im Bereich OK zum Berichtszeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Die Zahlen des Vorjahres:
- 9 OK-Verfahren (davon 2 aus dem aktuellen Berichtsjahr, 7 fortgeführte aus dem Vorjahr),
- 851 Straftaten der Allgemeinkriminalität – davon 14,8 % Verkehrsstraftaten – und
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106 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
NRW
- 6 OK-Verfahren (davon 3 aus dem aktuellen Berichtsjahr, 3 fortgeführte aus dem Vorjahr)
- 6.707 Straftaten der Allgemeinkriminalität – davon 13 % Verkehrsstraftaten – und
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1.742 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
Niedersachsen
- 5 OK-Verfahren,
- 3.145 Straftaten der Allgemeinkriminalität und
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560 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
"Clankriminalität" stellt minimalen Anteil an Gesamtkriminalität dar
"Clankriminalität" wird regelmäßig als zentrales Sicherheitsproblem Deutschlands dargestellt. Ein Vergleich der "Clankriminalität" mit den regulären Polizeilichen Kriminalitätsstatistiken (PKS) der Bundesländer zeigt allerdings: Alle als "Clankriminalität" kategorisierten Straftaten machen zusammengezählt nur einen minimalen Anteil der Kriminalität im jeweiligen Bundesland aus.
- In Berlin 0,16 Prozent
- In NRW 0,48 Prozent
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In Niedersachsen 0,59 Prozent.Quelle
Hinzu kommt: Die Zahlen der PKS und die als "Clankriminalität kategorisierten Straftaten sind nicht unmittelbar vergleichbar. Die tatsächlichen Prozentsätze der "Clankriminalität" dürften noch niedriger liegen:
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Bei NRW und Berlin: Die als „Clankriminalität“ kategorisierten Straftaten kommen aus der „Eingangsstatistik“, während die PKS-Zahlen der „Ausgangsstatistik“ entstammen. Der Unterschied: Die „Eingangsstatistik“ enthält alle Straftaten, die der Polizei bekannt werden, also auch Taten, die sich im Nachhinein nicht als Straftaten herausstellen. Die „Ausgangsstatistik“ enthält nur noch die Straftaten, bei der die Polizei nach ihren Ermittlungen von einem Tatverdacht ausgeht und den Fall an die Staatsanwaltschaft abgibt. Somit sind die Zahlen in der „Eingangsstatistik“ immer größer als die in der „Ausgangsstatistik“. Bei einem Vergleich der jeweiligen Ausgangsstatistiken (die für „Clankriminalität“ in den besagten Bundesländern nicht vorliegt) dürfte der Anteil an der Gesamtkriminalität daher noch geringer sein. Dies trifft nicht auf Niedersachsen zu, da die „Clankriminalität“-Statistik dort, wie die PKS, eine Ausgangsstatistik ist.Quelle
- In den Lagebildern Clankriminalität Berlin und NRW sind Verkehrsdelikte enthalten, während diese in den PKS-Zahlen nicht oder nur teilweise enthalten sind.
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Im Bereich „Clankriminalität“ ist die sogenannte Kontrolldichte hoch. Das bedeutet: Es gibt viele Personenkontrollen, Gewerbekontrollen und Razzien. Wer sucht, der findet – das gilt auch für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Denn dort, wo mehr Kontrollen stattfinden, können auch mehr Verstöße aufgedeckt werden. Darauf wies die Polizei im Berliner Lagebild „Clankriminalität 2021“ selbst hin: „Im Hinblick auf Fallzahlen zu Verkehrsstraftaten, Verstößen gegen das Betäubungsmittel-/Arzneimittel- sowie Infektionsschutzgesetz wird darauf hingewiesen, dass es sich dabei um Kontrolldelikte handelt. Insofern geht mit der Erhöhung des Verfolgungsdrucks auch eine Zunahme von Fallzahlen in diesen Kriminalitätsbereichen einher."Quelle
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Das Innenministerium NRW betont andererseits, dass die PKS auch Straftaten enthält, bei denen kein konkreter Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Das „Lagebild Clankriminalität“ hingegen enthält nur Straftaten mit konkreten Tatverdächtigten.Quelle
Das „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“ als Maßstab
Das oben dargelegte Missverhältnis zwischen behaupteter und tatsächlicher Größe des Sicherheitsproblems bestätigt das Innenministerium Niedersachsen im Lagebild explizit: "Kriminelle Clanstrukturen sind in Niedersachsen präsent. Wenngleich sie quantitativ sowohl in Bezug auf die Tatverdächtigen und Beschuldigten als auch in Bezug auf die Ermittlungsverfahren bei Betrachtung des Gesamtvolumens krimineller Handlungen in absoluten Zahlen kaum ins Gewicht fallen, beeinträchtigen sie das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und fordern die Strafverfolgungsbehörden in einem besonderen Umfang. Hier besteht ein deutliches Missverhältnis zwischen ihrer zahlenmäßigen, statistischen Präsenz und der ihnen im Rahmen von Einsatzbewältigungen zu widmenden Aufmerksamkeit."Quelle
Verfassungsrechtliche Bedenken
Im Jahr 2023 unternahm die Berliner Polizei 964 Maßnahmen im Bereich der "Clankriminalität", in NRW waren es im Jahr 2024 mindestens 703 Kontrollaktionen. Im Jahr 2024 unternahm die Berliner Polizei 74 Kontrolleinsätze zur "Bekämpfung der Clankriminalität". Dazu gehören etwa Personenkontrollen, Gewerbekontrollen und Razzien. Niedersachsen konnte keine Zahlen zu Maßnahmen im Bereich "Clankriminalität" nennen.Quelle
„Diese polizeilichen Maßnahmen sind rechtlich als Grundrechtseingriffe in den Artikel 3 Grundgesetz und – für Berlin – in § 2 Landesantidiskriminierungsgesetz einzuordnen“, sagt Dr. Doris Liebscher auf Anfrage des Mediendienstes. Sie ist Verfassungsrechtlerin und Leiterin der Ombudsstelle für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz: „Denn die Maßnahmen knüpfen an die Herkunft an – wie in den Lagebildernbeschrieben richten sie sich etwa an „arabischstämmige” oder „Mhallamiye”-Personen“, so Liebscher. Nach dem Grundgesetz und dem Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz ist eine rassistische Diskriminierung – also ein Anknüpfen an ethnisierende Kriterien – grundsätzlich verboten. Liebscher verweist dazu auf ein wegweisendes Gerichtsurteil zu Racial Profiling aus dem Jahr 2018: „Wennm an an Merkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG – wie zum Beispiel das Merkmal der Herkunft – anknüpft, kann das eine stigmatisierende Wirkung haben“, so Liebscher, „es bestehen dann besonders hohe Anforderungen an die Rechtfertigung solcher Kontrollen.“
Eine rassistische Diskriminierung kann nach dem Grundgesetz nur durch den Schutz eines anderen Rechtsguts von Verfassungsrang gerechtfertigt werden. Das könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. „Ein Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung reicht dafür nicht aus”, so die Einschätzung von Liebscher. Es müsse stattdessen mit empirischen Daten gezeigt werden, dass die öffentliche Sicherheit gefährdet ist und ein nach der Herkunft differenzierendes Kriterium nötig ist, um Abhilfe zu schaffen. Das mache die Polizei laut Liebscher in den „Lagebildern Clankriminalität” aber nicht. Im Gegenteil:Der überwiegende Teil der Anzeigen betreffe Verkehrsordnungswidrigkeiten, Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz und Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz; das zeigten die Zahlen ausden Lagebildern, aus kleinen parlamentarischen Anfragen, und einer Studie zur Gewerbeüberwachung. Aus diesen Daten ergebe sich keine erhöhte Straffälligkeit der betroffenen Bevölkerungs-gruppen. „Wenn das ‚Gefühl der Bevölkerung’ und nicht eine echte Faktenlage ausschlaggebend ist, dann ist das rechtswidrig“ so Liebscher.
Ethnisierender Herangehensweise
"An Ethnien anzuknüpfen ist nicht nur rechtlich problematisch, es ist auch polizeilich nicht effektiv" sagt die Kriminologin Daniela Hunold auf Anfrage des Mediendienstes. Sie arbeitet seit vielen Jahren zum Thema "Clankriminalität". Von 2019 bis 2022 war sie im Landeskriminalamt Bremen tätig, wo sie unter anderem mit der Analysestelle Clankriminalität zusammenarbeitete. Sie sagt: "Suggeriert wird hier ja, dass es für die Kriminalität, die von Angehörigen der als "Clans" bezeichneten Großfamilien begangen wird, eine bestimmte polizeiliche Herangehensweise bräuchte, nämlich eben die der "Clankriminalitäts"-Bekämpfung. Das kann ich aus polizeilicher und kriminologischer Perspektive nicht bestätigen. Da wird ein Zusammenhang suggeriert, der so einfach nicht existiert. Letztlich gibt es in den entsprechenden Bundesländern aber politischen Druck, mit diesem Konstrukt weiterzuarbeiten", so Hunold.