Am 3. August 2014 begann der Völkermord der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) an der jesidischen Bevölkerung im Irak. Zehntausende Jesid*innen sind seither aus ihrer Heimat geflüchtet, viele von ihnen leben in Deutschland. Die Bundesregierung hat die Verbrechen des IS an den Jesid*innen im Januar 2023 offiziell als Völkermord anerkannt. Der MEDIENDIENST hat eine Übersicht über die wichtigsten Zahlen und Fakten zu jesidischen Geflüchteten in Deutschland erstellt.
Wie viele Jesiden leben in Deutschland?
Offizielle Zahlen zur jesidischen Community in Deutschland gibt es nicht, da im Ausländerzentralregister die Religionszugehörigkeit nicht systematisch erfasst wird. Nach Schätzungen des Zentralrats der Êzîden leben mehr als 230.000 Jesid*innen in Deutschland. Damit wäre Deutschland nach dem Irak das zweitgrößte Heimatland für die Religionsgemeinschaft. Von 2014 bis Juni 2024 wurde in mehr als 100.000 Fällen Jesid*innen ein Schutzstatus durch das BAMF zuerkannt. Der Großteil der jesidischen Bevölkerung in Deutschland lebt einem aktuellen Bericht von Pro Asyl zufolge in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Die ersten Jesid*innen kamen bereits Ende der 1960er Jahre aus der Türkei über Gastarbeiterabkommen nach Deutschland. Ab 1980 flohen viele Jesid*innen vor Verfolgung aus der Türkei nach Deutschland, zudem kam es zu größeren Fluchtbewegungen seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien, sowie insbesondere seit dem Beginn des Völkermords durch den Islamischen Staat 2014.Quelle
Wer sind die Jesiden?
Die Jesid*innen sind eine religiöse Gemeinschaft, die ursprünglich hauptsächlich im Nordirak, Südtürkei und Nordostsyrien lebt. Ihr Siedlungsgebiet überschneidet sich zu einem großen Teil mit den kurdischen Gebieten und die Muttersprache der meisten Jesiden ist Kurdisch. Die Konvertierung zum Jesidentum ist nicht möglich. Das heißt, um Mitglied der Gemeinschaft zu werden müssen beide Elternteile Jesid*innen sein. Jesid*innen sind bereits seit Jahrhunderten mit Vorurteilen, Diskriminierung und Verfolgung konfrontiert. Weltweit zählen sich schätzungsweise rund eine Millionen Menschen dem Jesidentum zugehörig.Quelle
Welchen Schutz erhalten jesidische Geflüchtete?
2014 stellte das BAMF wegen des Völkermords an den Jesid*innen eine sogenannte Gruppenverfolgung von Jesid*innen im Irak fest. Aus diesem Grund wurden ab 2014 in Deutschland viele irakische Jesid*innen als schutzbedürftig anerkannt. 2017 hat das BAMF seine Einschätzung der Gruppenverfolgung zurückgenommen und begründete das mit einer besseren Sicherheitslage. Daraufhin wurden deutlich mehr Asylanträge jesidischer Schutzsuchender abgelehnt. Im vergangenen Jahr lag die Ablehnungsquote bei gut 40 Prozent, im ersten Halbjahr 2024 stieg sie auf 50 Prozent.Quelle
Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Anerkennung von syrischen und irakischen Schutzsuchenden mit jesidischer Religionszugehörigkeit. So liegt die Anerkennungsquote für syrische Jesid*innen seit 2014 konstant bei nahezu 100 Prozent. Grund dafür ist jedoch nicht die Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft, sondern vielmehr, dass Geflüchtete aus Syrien allgemein eine hohe Anerkennungsquote in Deutschland haben. Die Schutzquote für Jesid*innen aus dem Irak lag in den Jahren 2014 bis 2017 noch bei über 90 Prozent. 2018 betrug sie 63 Prozent und 2023 erhielten nur noch 53 Prozent aller irakischen Jesid*innen einen Schutzstatus in Deutschland.Quelle
Zwischen 2015 und August 2023 wurde der Schutzstatus von über 1.500 irakischen Jesid*innen widerrufen. In 41 Fällen wurde der Widerruf durch ein Verwaltungsgericht rückgängig gemacht.Quelle
Aufnahmeprogramme und Abschiebestopps
Die Bundesregierung vereinbarte 2023 mit dem Irak, bei Abschiebungen stärker zusammenzuarbeiten, und es gab Medienberichte über Abschiebungen von Jesid*innen. Zahlen dazu liegen nicht vor, da die Religionszugehörigkeit bei Abschiebungen nicht erfasst wird. Manche Bundesländer haben kurzfristig landeseigene Abschiebestopps beschlossen, durch die Frauen und minderjährige Jesid*innen und zum Teil ihre Familienmitglieder vor Abschiebungen geschützt werden. Diese sind vorerst für drei Monate gültig und können im Anschluss einmalig für weitere drei Monate verlängert werden.Quelle
Insgesamt haben vier Bundesländer von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht – aktiv ist sie nur noch in Rheinland-Pfalz und in Niedersachsen, wo ein Großteil der jesidischen Bevölkerung in Deutschland lebt. In Nordrhein-Westfalen und Thüringen ist die Regelung mittlerweile ausgelaufen. Brandenburg und Bremen weisen darauf hin, dass es ohnehin kaum oder keine Abschiebungen in den Irak gebe.Quelle
Völkermord durch den "Islamischen Staat"
In der Nacht vom zweiten auf den dritten August 2014 überfielen IS-Kämpfer die Stadt Sinjar und nahmen den Teil der Bevölkerung, welcher nicht rechtzeitig fliehen konnte, gefangen oder töteten sie. Gefangene Männer und ältere Jungen wurden getötet, wenn sie sich weigerten zum Islam zu konvertieren. Frauen und Mädchen wurden versklavt. Schätzungen zufolge wurden seit dem 3. August zwischen 2.000 und 5.500 Jesid*innen getötet und ungefähr 6.400 gefangen genommen. Bis heute gelten noch rund 2.600 Jesid*innen als vermisst.Quelle
Wie ist die Lage für Jesiden im Irak heute?
Im Jahr 2017 galt der IS als besiegt. Im selben Jahr nahm das BAMF seine Einschätzung, Jesiden seien im Irak als Gruppe verfolgt, zurück. Viele Jesid*innen lebten auch zehn Jahre nach dem Genozid noch in Camps für Binnenvertriebene, sagt Rosa Burç, Soziologin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Mit rund 126.000 Menschen ist bisher nur ein Teil der Binnenvertriebenen nach Sinjar zurückgekehrt (Stand August 2023). Grund dafür sei, dass die Region noch immer stark zerstört sei. Durch den Konflikt mit dem IS wurden laut IOM rund 80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur, sowie 70 Prozent der Wohnhäuser in Sinjar zerstört. Im 2020 geschlossenen Sinjar-Abkommen zwischen der irakischen Zentral- und der Kurdischen Regionalregierung haben sich die beiden Parteien auf einen Plan zum Wiederaufbau und zur Sicherung der Region verständigt. "Doch vom Aufbau wurde bisher nur wenig umgesetzt" sagt Burç. Laut IOM leben rund 88 Prozent der Rückgekehrten in Sinjar unter schwierigen Lebensbedingungen. Auch die Ideologie und die Vorurteile, welche die Grundlage für die jahrhundertelange Verfolgung, sowie den Genozid von 2014 bildeten, sind laut Burç immer noch präsent und wurden nicht aufgearbeitet.Quelle
Das Auswärtige Amt (AA) verweist in seinem aktuellen Lagebericht darauf, dass seit dem territorialen Sieg über den IS Minderheiten im Irak nicht mehr systematisch von diesem verfolgt würden. Dennoch gibt es laut AA Berichte über Unsicherheiten, die aus der Präsenz verschiedener bewaffneter Gruppierungen in der Region Sinjar resultierten.Quelle
Von Fabian Sugar und Sophie Thieme
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