Zwischen 2015 und 2016 haben seit Einführung des Asylsystems in der Nachkriegszeit so viele Menschen wie noch nie einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Viele einstige Flüchtlinge sind inzwischen zu Hause in Deutschland.
Der MEDIENDIENST hat nachgefragt:
1. Wie viele Menschen haben Schutz in Deutschland gesucht?
2. Wie wohnen sie?
3. Wie viele haben eine Arbeit?
4. Wie viele gehen zur Schule oder studieren?
5. Wie viele haben Integrationskurse besucht?
6. Wie blicken sie auf ihr Leben in Deutschland?
1. Wie viele Menschen haben Schutz in Deutschland gesucht?
Zwischen 2015 und 2019 haben rund 1,7 Millionen Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt (Erstanträge). Das sind etwa 40 Prozent aller Asylanträge, die in diesen fünf Jahren in der Europäischen Union gestellt wurden. Nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks (UNHCR) liegt Deutschland derzeit auf Platz zwei der Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben – nach der Türkei.Quelle
Nicht alle Geflüchteten haben Schutz in Deutschland erhalten. Zwischen 2015 und 2019 sind die "Schutzquoten" für Menschen aus Herkunftsstaaten wie Afghanistan, Irak und Iran deutlich gesunken.
Wie viele "Schutzsuchende" leben in Deutschland?
Ende 2019 lebten rund 1,8 Millionen "Schutzsuchende" in Deutschland – das heißt, Menschen, die einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben beziehungsweise sich "aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen" in Deutschland aufhalten. 9,2 Prozent von ihnen sind Kinder, die in Deutschland geboren sind. Zwar ist die Zahl der "Schutzsuchenden" in Deutschland seit Anfang 2015 um knapp 150 Prozent gestiegen. Dennoch: "Schutzsuchende" machen lediglich 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.Quelle
Welchen Status haben Schutzsuchende in Deutschland?
Etwa drei Viertel der "Schutzsuchenden", die in Deutschland leben, haben einen anerkannten Schutzstatus. 15 Prozent haben einen "offenen" Schutzstatus – das heißt, sie sind noch im Asylverfahren. Knapp 12 Prozent leben noch in Deutschland, obwohl ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Die meisten "Schutzsuchenden" sind in den vergangenen fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Die Durchschnitts-Aufenthaltsdauer beträgt etwas mehr als sieben Jahre.Quelle
Olaf Kleist – Migrationsforscher am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)
"Asyl kann nicht ausschließlich von einzelnen Ländern in Europa gewährt werden"
Die Zahl neuer Asylanträge ist in den vergangenen fünf Jahren deutlich zurückgegangen. Der massive Stau in der Bearbeitung von Asylverfahren hat sich aufgelöst, die Verfahren wurden zunehmend an die EU-Außengrenzen verlegt. Reformvorschläge wollen diese Verlagerung der Verantwortung noch weiter vorantreiben. Das deutsche Asylsystem wird also entlastet, indem an Europas Außengrenzen eine Vorauswahl geschehen soll. Dies ist rechtsstaatlich problematisch und bürdet Verfahren den Staaten an den Außengrenzen auf – also insbesondere Griechenland und Italien, deren Asylbehörden und Gerichte schon längst überfordert sind. Es bedarf einer solidarischen Verteilung von Asylverfahren auf die Schengen-Mitglieder oder eines wirklich europäischen Asylverfahrens durch das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), mit europäischen Gerichten zum Anfechten von Entscheidungen und einem europäischen Flüchtlingsstatus. Fünf Jahre nach 2015 kann die Lehre nur sein: Asyl kann nicht ausschließlich von einzelnen Ländern in Europa gewährt werden. Es berührt den Kern einer demokratischen EU und ist eine gesamteuropäische Aufgabe.
2. Wie wohnen sie?
Die meisten Geflüchteten wohnen in Privatwohnungen, zeigt eine Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des Sozioökonomischen Panels (SOEP) und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Demnach wohnten Ende 2018 etwa drei Viertel aller Geflüchteten (darunter auch Asylbewerber*innen im Verfahren und Geduldete) in Privatwohnungen. Die meisten von ihnen (72 Prozent) lebten in Städten – vor allem in großen Mehrfamilienhäusern. Für anerkannte Flüchtlinge gilt eine "Wohnsitzauflage" – das heißt, sie müssen bis zu drei Jahre in dem Bundesland wohnen bleiben, in dem ihr Asylverfahren durchgeführt wurde, sofern sie nicht einen Job oder Ausbildungsplatz nachweisen können.Quelle
Danielle Gluns – Leiterin der Forschungs- und Transferstelle Migrationspolitik am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim
"Kommunen haben Projekte gestartet, um Geflüchtete zu unterstützen"
Die Wohnsituation Geflüchteter – und Menschen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen – ist trotz einiger Fortschritte weiterhin schlechter als die der Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte. Mehrere Kommunen haben inzwischen Projekte gestartet, um Geflüchtete bei der Wohnungssuche zu unterstützen. Zudem gibt es private Initiativen, die mit innovativen Wohnkonzepten arbeiten – etwa, um Wohngemeinschaften von Studierenden und Geflüchteten zu fördern. Darüber hinaus haben Bund und Länder wieder angefangen, verstärkt in den geförderten Wohnungsbau zu investieren. Eine solche Förderung kann langfristig dazu beitragen, dass mehr bezahlbarer Wohnraum entsteht.
3. Wie viele haben Arbeit?
Mehr als die Hälfte der berufsfähigen Geflüchteten, die nach 2013 nach Deutschland gekommen sind, geht einer Arbeit nach. Ihre Integration auf dem Arbeitsmarkt ging somit schneller voran als bei Geflüchteten früherer Jahre, berichtet das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Viele Geflüchtete stehen dem Arbeitsmarkt noch nicht zur Verfügung. Um in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, müssen sie zunächst Sprach- und Integrationskurse besuchen.Quelle
Viele Geflüchtete haben in den vergangenen Monaten ihren Job aufgrund der Corona-Pandemie verloren. Bei Personen aus Kriegs- und Krisenländern ist die Arbeitslosenquote seit Anfang der Corona-Pandemie um 5,6 Prozentpunkte gestiegen. Bei EU-Ausländer*innen lediglich um zwei Prozentpunkte. Ein Grund: Die Geflüchteten arbeiten häufiger in Branchen, in denen sich die Krise besonders stark auswirkt, zum Beispiel in Hotels oder in der Gastronomie.Quellen
Zunehmend viele Geflüchtete lernen einen Beruf: Etwa 55.000 Menschen aus den acht Haupt-Asylherkunftsstaaten absolvieren eine Berufsausbildung (Stand: September 2019).Quellen
4. Wie viele gehen zur Schule oder studieren?
Wie viele geflüchtete Kinder und Jugendliche eine deutsche Schule besuchen beziehungsweise besucht haben, wird von den Bundesländern nicht erhoben. Man kann sich der Zahl nur nähern: Ende 2019 lebten in Deutschland etwa 316.300 jungen "Schutzsuchende" im schulpflichtigen Alter. Laut einer Umfrage des BAMF unter Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland eingereist sind, gingen rund 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Schulalter in die Schule.Quelle
Mona Massumi – Erziehungswissenschaftlerin und Lehrerin
"Wir brauchen mehr Flexibilität"
Die Integration von Geflüchteten in Schulen und Betrieben hat Fortschritte gemacht: Konzepte regeln inzwischen, auf welche Schulformen sie verteilt werden und helfen dabei, dass sie sich in den Unterricht eingliedern können. Unternehmen, die Geflüchtete als Azubis aufnehmen wollen, werden mit Informationskampagnen dabei unterstützt. Einige dieser Maßnahmen waren allerdings reine Adhoc-Reaktionen auf die Umstände. Mitunter sind die Konzepte noch nicht nachhaltig genug gedacht. Die Zugangsbarrieren zu Schulen, Hochschulen und Ausbildungsplätzen sind für Geflüchtete häufig weiterhin hoch. Das liegt unter anderem daran, dass das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem oftmals zu sehr auf formale Abschlüsse und die deutsche Sprache fixiert ist. Viele geflüchtete Azubis scheitern beispielsweise nicht an den inhaltlichen, sondern allein an den sprachlichen Hürden einer Ausbildung. Ihre Potentiale gehen so verloren. Hier bräuchte es mehr Flexibilität.
Neuimmatrikulierte mit "Fluchthintergrund"
Es gibt auch immer mehr Geflüchtete, die in Deutschland studieren: Mehr als 3.700 "Studierende mit Fluchthintergrund" haben sich laut einer Umfrage der Hochschulrektorenkonferenz im Wintersemester 2018/2019 neu an deutschen Hochschulen immatrikuliert. Seit 2015 sind über 10.000 Geflüchtete neu hinzugekommen.Quelle
5. Wie viele haben Integrationskurse besucht?
Die Integrationskurse standen lange Zeit nur jenen AsylbewerberInnen offen, deren Asylantrag bereits anerkannt wurde. Diese Bestimmung wurde 2015 gelockert. Seitdem dürfen auch AsylbewerberInnen mit guter Bleibeperspektive, die noch im Verfahren sind, daran teilnehmen – wenn es genügend Plätze gibt. Inzwischen gilt das auch für AsylbewerberInnen mit schlechter Bleibeperspektive, die vor dem 1. August 2019 eingereist sind. Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten haben keinen Zugang zu den Kursen.Quelle
In den Jahren 2015/2016 stieg die Zahl der Teilnehmenden an Integrationskursen sprunghaft an – von 142.000 im Jahr 2014 auf rund 340.000 im Jahr 2016. Seitdem sinken die Zahlen wieder. 2019 besuchten etwas mehr als 176.000 Menschen Integrationskurse in Deutschland.Quelle
Mit den gesunkenen Zahlen änderte sich auch die Zusammensetzung der Kurse. Machten Geflüchtete im Jahr 2016 noch rund zwei Drittel der Teilnehmenden aus, steigt inzwischen der Anteil von EU-Bürgern (wieder) an.
Laut einem Forschungsbericht des BAMF haben viele Flüchtlinge in Integrationskursen ein niedriges Bildungsniveau. Häufig müssen sie in den Alphabetisierungskursen oder den Zweitschriftlernerkursen zunächst die lateinische Schrift lernen. Ihre Muttersprachen sind außerdem weiter entfernt von der deutschen Sprache als europäische Sprachen. Zudem lernen Geflüchtete oft unter erschwerten Bedingungen: Viele haben traumatische Erfahrungen gemacht, leben getrennt von ihrer Familie oder in Gemeinschaftsunterkünften und haben eine unsichere Aufenthaltsperspektive.Quelle
Dietrich Thränhardt - Politikwissenschaftler an der Universität Münster
"Es ist Zeit für eine grundlegende Reform des Systems"
Integrationskurse, Herzstück der deutschen Integrationspolitik, stehen immer wieder in der Kritik: Die Wartezeiten sind zu lang, die Zahl der erfolglosen Teilnehmerinnen und Teilnehmer steigt. Letzteres liegt auch an der Qualität der Kurse: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist für sie verantwortlich, bietet sie allerdings nicht selbst an, sondern schreibt sie nur aus. Häufig kommen dabei die günstigsten Kurs-Anbieter zum Zug, Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer werden meist nur als Selbstständige beschäftigt. 2019 forderte der Bundesrat daher „eine grundsätzliche Neugestaltung“ der Integrationskurse. Daraus ist ein komplexes Durcheinander unterschiedlicher Angebote entstanden, das die Kommunen auf lokaler Ebene koordinieren müssen. Es ist Zeit für eine grundlegende Reform des Systems. Die Kommunen sollten die Organisation der Kurse auf lokaler Ebene übernehmen und entsprechende Mittel erhalten. Das BAMF sollte sich hingegen auf die Lehrpläne und die Qualitätssicherung der Kurse konzentrieren. Zudem sollten die Integrationskurse für alle Einwandererinnen und Einwanderer sowie alle Asylbewerberinnen und Asylbewerber geöffnet werden, unabhängig von ihrer Herkunft und Bleibeperspektive.
6. Wie blicken sie auf ihr Leben in Deutschland?
Schutzsuchende sind weitestgehend mit ihrem Leben in Deutschland zufrieden. Zu diesem Ergebnis kommt die dritte Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung, die seit 2016 jährlich unter Geflüchteten durchgeführt wird. Der Zufriedenheitswert ist demnach nur geringfügig kleiner als der der Mehrheitsgesellschaft. Drei Viertel der Geflüchteten fühlen sich zudem in Deutschland willkommen, der Wert ist seit 2016 stabil. Eher überraschend: Die Sorge vor Ausländerfeindlichkeit ist bei Geflüchteten weniger verbreitet als in der Aufnahmegesellschaft. Und das obwohl sie häufiger angaben, aufgrund ihrer Herkunft bereits einmal benachteiligt worden zu sein.Quelle
Von Sascha Lübbe und Fabio Ghelli
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