In der EU zerbricht man sich schon lange den Kopf darüber, wie man die Flüchtlinge am besten abwehren kann. Bereits 1998 legte die österreichische Regierung als EU-Vorsitzende ein internes "Strategiepapier zur Migrations- und Asylpolitik" vor. Darin wurde behauptet, dass mindestens jeder zweite Zuwanderer in Europa ein sogenannter Illegaler sei. Das Papier empfahl, ein Modell "konzentrischer migrationspolitischer Kreise" zu setzen. Die Flüchtlingsabwehr sollte bereits außerhalb der EU beginnen.
Den innersten dieser vier Kreise bilden die Schengen-Staaten mit ihren Grenzkontrollen. Die Nachbarstaaten sollten schrittweise in ein ähnliches System eingebunden werden, das sich als zweiter Kreis vor allem in der Visa-, Grenzkontroll- und Rücknahmepolitik kontinuierlich den Standards des ersten Kreises annähern soll. Ein dritter Kreis von Staaten, der den GUS-Raum (im Wesentlichen die Staaten der ehemaligen Sowjetunion), die Türkei und Nordafrika umschließt, sollte sich vor allem auf die Transitkontrolle und Schlepperbekämpfung konzentrieren. Ein vierter Kreis – der Mittlere Osten, China und die Subsahara-Länder – sollte sich um die Beseitigung von sogenannten Push-Faktoren kümmern, die zur Abwanderung führen.
Je nachdem, wie die Rolle in den vier Kreisen erfüllt wird, führt dies zur Bestrafung oder zur Belohnung der jeweiligen Länder. So sollte der vierte Kreis Entwicklungshilfe je nachdem erhalten, wie er sich in diesem System verhält.
"Zuckerbrot und Peitsche"
Schon damals, als der österreichische Vorschlag erarbeitet wurde, spielten sich dramatische Szenen im Mittelmeer ab. Fast jede Nacht versuchten Menschen aus Nordafrika, die Meerenge von Gibraltar zu durchqueren und das "Goldene Nordufer" des Mittelmeers zu erreichen. Die spanische Migrantenorganisation "Association des travailleurs immigrés marocains d'Espagne" (ATIME) ging davon aus, dass dabei jedes Jahr rund 1.000 Menschen ums Leben kamen.
Prof. Dr. KARL-HEINZ MEIER-BRAUN, der ehemalige Integrationsbeauftragte des Südwestrundfunks (SWR), ist Mitglied im "Rat für Migration" und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), Landesverband Baden-Württemberg. Vor kurzem erschien sein Buch "Schwarzbuch Migration. Die dunkle Seite unserer Flüchtlingspolitik".
Schon in den 1990er Jahren reagierte Europa mit Entsetzen, aber auch mit Gleichgültigkeit darauf: Mit militärischen Mitteln versuchten die Mitgliedstaaten, die Außengrenzen gegen unerwünschte Migranten abzuschotten. Mit Hubschraubern, Schiffen und Flugzeugen spürte die italienische Marine Flüchtlinge auf. 10.000 Mann stellte die italienische Küstenwache für diesen Zweck bereit.
Mit "Zuckerbrot und Peitsche" ein Bollwerk in unserem Vorfeld zu errichten: Diese damals entwickelte Idee der Abwehr bestimmt bis heute die europäische Migrationspolitik. Seit Jahrzehnten prägt ein sicherheitspolitisches Denken die Diskussion in der EU. Die unterschiedlichsten Probleme wie Drogenhandel, Terrorismus und steigende Migrantenzahlen werden unter dem merkwürdigen Begriff "Südbedrohung" vermischt.
Von der Forderung einer gemeinsamen Migrationspolitik, für die sich das österreichische Dokument ebenfalls aussprach, ist Europa heute dennoch so weit entfernt wie nie zuvor – und das, obwohl in den letzten Jahren ein Flüchtlingsgipfel den nächsten jagte.
"Wir geben Geld, ihr haltet uns die Flüchtlinge vom Leibe"
In den vergangenen zwanzig Jahren haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zahlreiche Gipfel, Abkommen und Prozesse mit afrikanischen Staaten ins Leben gerufen. Ziel all dieser Aktivitäten: Die Migration aus Afrika nach Europa zu verhindern. Der Europäischen Union ist es somit gelungen, ihre Grenzen zur Flüchtlingsabwehr nach Afrika zu verlagern – wobei Deutschland eine führende Rolle übernommen hat. So entwickelte Bundeskanzlerin Angela Merkel in den letzten Jahren eine intensive Reiseaktivität in Richtung Afrika, besuchte Länder wie Mali, Niger, Äthiopien, Ägypten und Tunesien, um über die Flüchtlingspolitik zu sprechen.
Die Vorverlagerung der Grenzkontrollen (sogenannte Externalisierung) schreitet immer weiter voran. Ein Beispiel dafür sind die jüngsten Abkommen mit der libyschen Regierung. Gleichzeitig hat Italien den Einsatz seiner Marine zur Unterstützung der libyschen Küstenwache beschlossen. Im Land tobt allerdings nach wie vor ein Bürgerkrieg zwischen drei Gegenregierungen und einer Vielzahl von bewaffneten Milizen.
Der Aufbau und die Unterstützung der Polizei oder der Küstenwache in Ländern wie Libyen sind schon deshalb ein zweischneidiges Schwert, weil die Sicherheitskräfte von den Regimen leicht gegen die eigene Bevölkerung und für die eigenen Machtinteressen eingesetzt werden können. Doch Libyen ist nur eines von mehreren konfliktreichen afrikanischen Staaten, mit denen die Mitgliedstaaten der EU derzeit verhandeln. Auch der Sudan zählt zu den wichtigsten Akteuren im Plan zum "Verbesserten Migrationsmanagement" der EU – obwohl über dem Kopf des sudanesischen Präsidents Omar Al-Bashir ein internationaler Haftbefehl wegen massiver Menschenrechtsverletzungen hängt.
In den vergangenen Monaten standen die EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland und Frankreich, in einem regen Austausch mit afrikanischen Staaten: Vom "Minigipfel" im August 2017 in Paris über den EU-Afrika-Gipfel in Abidjan im November bis zur Geberkonferenz der Mitgliedstaaten für die Sahel-Zone in Brüssel im Februar 2018. Bei allen Treffen lautete die Devise: Wir geben Geld, ihr haltet uns die Flüchtlinge vom Leibe. Allein aus den Bundeskassen sollen bis 2020 insgesamt 1,7 Milliarden Euro in die Sahel-Zone fließen. Damit soll unter anderem eine Eingreiftruppe aus Rekruten der fünf Sahelstaaten Mali, Burkina Faso, Niger, Mauretanien und Tschad finanziert werden. Sie hat die Aufgabe, Schmuggel und irreguläre Migration in Westafrika zu unterbinden.
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