Wie berichten über Antisemitismus unter Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund?

Ist Antisemitismus unter Muslim*innen und unter Menschen mit Migrationshintergrund stärker verbreitet als unter Nicht-Muslim*innen und Menschen ohne Migrationshintergrund? Ja und nein, zeigt die aktuelle Forschungslage: Es kommt auf die Ausprägung des Antisemitismus an. Aus der Forschung lassen sich folgende Handlungsempfehlungen für die Berichterstattung  ableiten:

RECHERCHE & ARTIKEL


1.) Migrationshintergrund und religiöse Zugehörigkeit (nur) erwähnen, wenn es relevant ist – und die Relevanz erklären: Für die Berichterstattung über beispielsweise einen antisemitischen Vorfall ist es dann wichtig, den Migrationshintergrund oder die religiöse Zugehörigkeit der Tatverdächtigen oder Täter*innen zu nennen, wenn es zum Verständnis des Sachverhalts beiträgt – etwa, wenn die möglicherweise zugrundeliegende persönliche Motivation oder Ideologie dadurch besser verstehbar wird.Beispiele:• Im Anschluss an ein Amateurfußballspiel unter Beteiligung eines jüdischen Sportvereins ruft ein gegnerischer Spieler: „Ihr Drecksjuden, Israel verrecke. Das ist das Land meiner Eltern. Wir Araber werden nie aufgeben!“ Der Täter stellt einen antisemitischen Bezug zwischen der israelischen Politik und jüdischen Fußballspieler*innen in Deutschland her, und zwar explizit unter Bezugnahme auf seine eigene Migrationsbiografie. Für das Verständnis von Motivation und Kontext ist diese Tatsache relevant.
• Im Fußball-Spielbericht einer unteren Liga vermerkt der Schiedsrichter: „In der 70. Minute pfiff ich ein Foulspiel für die Heimmannschaft. Der gegnerische Spieler (mit libanesischer Staatsangehörigkeit) mit der Nummer 9 kommentierte meine Entscheidung wie folgt: ‚Haben dich die Juden etwa auch gekauft?'" Die Aussage ist eindeutig antisemitisch, die Staatsangehörigkeit aber irrelevant: Weder aus der Frage noch aus dem Spielkontext ergibt sich eine spezifische Relevanz für den Sachverhalt.
2) Herkunftskontexte differenzieren:Der „arabische Raum“ oder die „islamische Welt“ sind heterogen. Bei Bezugnahme auf die Herkunftskontexte hilft es, auf unterschiedliche nationale und historische Gegebenheiten zu verweisen, auf Differenzen in Schulsystemen, öffentlichen und medialen Diskursen sowie auf die verschiedenen religiösen oder ethnischen Bevölkerungsgruppen hinzuweisen.
Beispiele:
• Während 25 Prozent der Sunnit*innen in Deutschland die Existenz des Judentums als bedrohlich empfindet, sind es unter den Alevit*innen nur 2 Prozent.

Vgl. Öztürk; Pickel (2022): Der Antisemitismus der Anderen, S. 216.; Pickel (2019): Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie, Bertelsmann Stiftung, S. 84

Allgemein über „Muslime“ oder „Araber“ zu sprechen, ist daher wenig aussagekräftig.
• Auch lassen sich zum Beispiel „mehrheitlich muslimisch geprägte Länder“ nicht über einen Kamm scheren: Die einzige weltweit vergleichende Antisemitismus-Studie zeigte: Während in der MENA-Region ("Middle East and North Africa") 74 Prozent der Befragten 6 der 11 abgefragten negativen Stereotype über Juden*Jüdinnen für „wahrscheinlich wahr“ hielten, waren es etwa in Nigeria nur 16 Prozent.

Siehe MEDIENDIENST-Expertise (2023): Antisemitismus unter Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund, S. 10

3.) Deutschland als Einwanderungsland: Deutschland ist – mittlerweile – eine Migrationsgesellschaft. Mehr als ein Viertel der Einwohner*innen haben einen Migrationshintergrund  – bei Kindern bis 5 Jahren sind es sogar rund 41 Prozent.

Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Reihe 2.2, 2021, Seite 39.

Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund ist daher kein Problem „der Anderen“, sondern ein deutsches.
4) Kontextualisierung: Antisemitische Einstellungen sind unter Menschen mit Migrationshintergrund weit verbreitet. Je nach Ausprägung des Antisemitismus sind sie teilweise weiter verbreitet als bei Deutschen ohne Migrationshintergrund, teilweise weniger weit verbreitet. Diese Kontextualisierung sollte in der Berichterstattung berücksichtigt werden, was etwa durch den Verweis auf die hohen Zustimmungswerte zu Antisemitismus in der Gesamtbevölkerung gelingen kann.

Vgl. Mediendienst Integration (2022): Wie verbreitet ist Antisemitismus in der Gesellschaft?

5) Keine Verharmlosung: Antisemitismus unter Muslim*innen und Menschen mit Migrationshintergrund sollte nicht verharmlost werden, etwa aus Angst vor der Reproduktion rassistischer Zuschreibungen. Manche seiner ideologischen Ursachen, etwa islamistische Ideologien, stellen eine Bedrohung für Juden und Jüdinnen, wie auch für eine demokratische Gesellschaft als solche dar.
6) Antimuslimischen Rassismus in Deutschland berücksichtigen: Antimuslimischer Rassismus gehört zur Lebenswelt deutscher Muslim*innen.

Vgl. Mediendienst Integration (2021): Antimuslimischer Rassismus in Deutschland

Die Erfahrung rassistischer Diskriminierung führt weder automatisch zu antisemitischen Einstellungen oder Handlungen, noch rechtfertigt sie diese. Sie kann sie aber befördern. Dies gilt es in der Berichterstattung zu berücksichtigen.
7) Keine „Opferkonkurrenz“ – kein Ausspielen von Minderheiten gegeneinander: Es gibt zahlreiche Kooperationen zwischen muslimischen und jüdischen Personen und Initiativen. Diese befassen sich teilweise auch mit Rassismus und Antisemitismus in den eigenen Communities und sollten als Gesprächspartner*innen einbezogen werden.Eine unvollständige Auswahl: Jüdisch-Muslimischer Thinktank Karov-Qareeb, Denkfabrik Schalom-Aleikum, Initiative #wirlassenunsnichttrennen, Maimonides Jüdisch-Muslimisches Bildungswerk, Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur 2020, Muslimisch-Jüdisches Festival Berlin.

BEGRIFFE

Klassischer Antisemitismus
Der klassische Antisemitismus ist ein Vorurteil und eine Weltsicht, in welcher Juden*Jüdinnen bestimmte biologische, „rassische“ oder kulturelle Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Stereotype verbinden sich häufig zu Verschwörungstheorien.
Beispiele:• „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.“
• „Die Juden haben etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns.“
• „Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.“
Sekundärer Antisemitismus
Der sekundäre Antisemitismus ist eine Form der Judenfeindschaft, die vor allem im Kontext der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen sichtbar wird. Er kann sich etwa in Relativierung oder Leugnung des Holocaust, der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit oder in der rhetorischen Umkehr von Opfern und Tätern äußern.
Beispiele:
• "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen."
• "Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören."
Israelbezogener Antisemitismus
Kritik an Israel ist antisemitisch, wenn traditionelle Stereotype auf den Staat Israel übertragen werden oder die Politik Israels mit dem NS gleichgesetzt wird; wenn Juden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden oder wenn an israelische Politik andere Standards als an andere Demokratien angelegt werden.
Beispiele• "Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben."
• "Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer."
Muslimischer, arabischer, „importierter“ Antisemitismus?
Forschungsergebnisse zu Antisemitismus sind schwer vergleichbar, weil unterschiedliche Kategorien erforscht werden: Mal sind es die Einstellungen von Ausländer*innen, mal von Menschen mit Migrationshintergrund, mal von Muslim*innen usw. Dazu kommt: Hinter der Kategorie „Migrationshintergrund“ verbergen sich unterschiedliche Herkunftsländer. Und: Migrant*innen aus mehrheitlich muslimischen Ländern sind nicht automatisch muslimisch – sie können auch christlich oder atheistisch sein. Zudem gibt es große Unterschiede unter Muslim*innen, etwa zwischen Sunnit*innen, Schiit*innen und Alevit*innen. Ein Beispiel: Während 25 Prozent der Sunnit*innen in Deutschland die Existenz des Judentums als bedrohlich empfinden, sind es unter den Alevit*innen nur zwei Prozent.  Allgemein über „Muslime“ oder „Araber“ zu sprechen, ist daher wenig aussagekräftig.  In der Forschung wird  wie folgt differenziert:
Muslimischer oder islamischer Antisemitismus beschreibt judenfeindliche Einstellungen, die sich aus einer religiösen islamischen Tradition speisen. In dieser wird sich beispielsweise positiv auf judenfeindliche Passagen im Koran oder den Hadithen bezogen.  Daher ist nicht jede antisemitische Äußerung von einer muslimischen Person  eine Form von „muslimischem Antisemitismus“.
Arabischer Antisemitismushingegen hat einen regionalen Bezug, bezieht sich also auf Einstellungen in arabischen Ländern beziehungsweise ideologische Bezugspunkte wie den arabischen Nationalismus – unabhängig von der Religionszugehörigkeit.
• Der Begriff Islamisierter Antisemitismus betont im Gegensatz dazu, dass antisemitische Narrationen auch in mehrheitlich muslimischen Ländern sich aus mehreren, in verschiedenen historischen Kontexten generierten Quellen speisen. In vielen Fällen sind sie auch durch ideologische Importe eines christlichen Antijudaismus oder modernen europäischen Antisemitismus geprägt.
Islamistischer Antisemitismus bezeichnet Judenfeindschaft als Teil eines radikalislamistischen Weltbildes.
Importierter Antisemitismus kommt als Begriff immer wieder in medialen Debatten auf. Er soll antisemitische Vorstellungen bezeichnen, die direkt durch Migrant*innen oder indirekt durch Medien aus ihren Herkunftsländern in die deutsche Gesellschaft kommen. Der Begriff legt nahe, dass es ohne einen solchen ideologischen Import kaum Antisemitismus in Deutschland gäbe – was falsch ist.  Der Begriff hat daher keinen Eingang in wissenschaftliche Debatten gefunden. 

LINKS & QUELLEN

• Expertise "Antisemitismus unter Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund", Sina Arnold / Mediendienst Integration,  Link
• Antisemitismus in Deutschland Zahlen & Fakten / Mediendienst Integration, Link

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