Seenotrettung im Mittelmeer

Das Mittelmeer – insbesondere das Gebiet zwischen der libyschen und italienischen Küste – gilt nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) als eine der gefährlichsten Grenze der Welt: Viele Menschen kommen bei der Überfahrt ums Leben.QuelleIOM (2017): "New Study Concludes Europe’s Mediterranean Border Remains 'World’s Deadliest'"; IOM (2021): "Missing Migrants"

Wer für die Seenotrettung von Geflüchteten zuständig ist, hängt von der Region im Mittelmeer ab:

Im westlichen Mittelmeer kümmert sich vor allem die staatliche "Sociedad de Salvamento y Seguridad Marítima" aus Spanien um die Rettung von Geflüchteten. Dabei wird sie von der spanischen "Guardia Civil" unterstützt. Seit Februar 2019 arbeitet sie auch mit der marokkanischen Küstenwache zusammen. Laut Medienberichten werden Geflüchtete seitdem verstärkt in Marokko, Algerien und Mauretanien an Land gebracht. Daten zur Zahl der Personen, die von den jeweiligen Küstenwachen aufgegriffen wurden, sind nicht verfügbar.QuelleAngaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) auf Anfrage des MEDIENDIENSTES

Im östlichen Mittelmeer sind Einheiten der griechischen und türkischen Küstenwache sowie die europäische Frontex-Operation "Poseidon" für die Seenotrettung zuständig. Von den rund 112.500 Menschen, die 2024 die Seereise über die östliche Mittelmeer-Route unternommen haben, wurden etwa die Hälfte von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und zurück in die Türkei gebracht. Seit dem EU-Türkei-Abkommen werden alle Geflüchtete, die von der türkischen Küstenwache aufgegriffen werden, zurück in die Türkei gebracht.QuelleAngaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) auf Anfrage des MEDIENDIENSTES

Im zentralen Mittelmeer wurden 2024 etwa 40 Prozent der Menschen, die die Überfahrt versuchen, von der libyschen und tunesischen Küstenwache aufgegriffen. Die libysche Küstenwache bringt die Schutzsuchenden wieder nach Libyen, wo sie in der Regel wegen "illegaler Zuwanderung" inhaftiert werden. Zudem patrouillieren die italienische Küstenwache sowie vereinzelt Nichtregierungsorganisationen in diesem Gebiet.QuelleAngaben von IOM auf Anfrage des MEDIENDIENSTES; IOM (2025), United Nations Human Rights Council (2023), Independent Fact-Finding Mission on Libya LINK

Seenotrettung als Pull-Faktor?

Immer wieder wird diskutiert, ob Seenotrettung als Pull-Faktor wirkt – also ob mehr Menschen die Überfahrt über das Mittelmeer wagen, weil sie wissen, dass es Rettungsaktionen gibt. Eine Studie des DeZIM-Instituts 2023 zeigt, dass das nicht der Fall ist: Seenotrettung habe keinen Effekt auf die Überfahrten im Mittelmeer. Die Forscher*innnen haben dafür zahlreiche Daten von 2011 bis 2020 ausgewertet. Andere Faktoren hätten hingegen einen Einfluss: etwa Konflikte, Naturkatastrophen oder Rohstoffpreise. Pushbacks, wie von der libyschen Küstenwache, senken die Anzahl an Überfahrten.QuelleDeZIM (2023), Search‑and‑rescue in the Central Mediterranean Route does not induce migration, S. 1, 3 und 4, LINK.

IM FOKUS: ZIVILE SEENOTRETTUNG AUF DER ZENTRALEN MITTELMEER-ROUTE
Bis zum Sommer 2018 waren im zentralen Mittelmeer vor allem zivile Organisationen sowie Schiffe der italienischen Küstenwache und der Europäischen Union für die Seenotrettung zuständig. Heute spielen sie bei Rettungsoperationen nur noch eine untergeordnete Rolle.QuelleItalienische Küstenwache (2019): "Attività SAR Immigrazione nel Mediterraneo Centrale"
Das hat folgende Gründe:
Seit Juni 2017 gibt es eine libysche "Search and Rescue"-Zone (SAR), für die allein die libysche Küstenwache zuständig ist. Das heißt: Sie koordiniert alle Seenotrettungsoperationen in diesem Gebiet und entscheidet, wer an Rettungsoperationen beteiligt ist. Seenotrettungs-Organisationen schließt die libysche Küstenwache von solchen Operationen aus.QuelleWissenschaftliche Dienste des Bundestags (2018): "Einrichtung von SAR-Zonen und Seenotrettungsleitstellen"; OHCHR (2018): "Desperate and Dangerous: Report on the human rights situation of migrants and refugees in Libya", S. 12
Die italienische Regierung lässt seit Juli 2018 nur vereinzelt Schiffe ziviler Seenotretter ans Land. Das hat zur Folge, dass die NGOs seitdem deutlich weniger Schiffbrüchige in Sicherheit bringen können. Auch die EU-Missionen "Themis" und "Sophia" sind kaum noch an Seenotrettungs-Operationen beteiligt. Die "Themis"-Schiffe patrouillieren seit 2018 in einem viel größeren Gebiet als zuvor – und halten sich deshalb nur noch selten im zentralen Mittelmeer auf. Die Mission "Sophia" ist seit März 2019 nur noch für die Überwachung des Luftraums und für die Ausbildung der libyschen Küstenwache zuständig.QuelleFrontex (2019), Operation Themis und Europäischer Rat, EUNAVFOR MED Operation SOPHIA: Mandat bis 30. September 2019 verlängert, 29.03.2019
Entwicklung der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer (2013-2020)
Infolge einer Reihe von tödlichen Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer startete die italienische Regierung im Oktober 2013 die Seenotrettungs- und Grenzschutz-Operation "Mare Nostrum", die in einem Jahr etwa 100.000 Geflüchtete rettete. Nach Abschluss von "Mare Nostrum" übernahm die europäische Operation "Triton" die Überwachung des Gebiets. Kritiker monierten: "Triton" verfüge nur über ein Drittel des Budgets von "Mare Nostrum" und sei qua Einsatzauftrag in erster Linie für die Grenzsicherung zuständig. 2014 stieg die Zahl der Menschen, die bei der Überfahrt ihr Leben verloren, auf mehr als 3.000. Daraufhin beschlossen Hilfsorganisationen wie die "Migration Offshore Aid Station", "Sea Watch" und "Ärzte ohne Grenzen", eine private Seenothilfe im zentralen Mittelmeer zu organisieren. 2015 wurde die europäische Operation EUNAVFOR MED gestartet, die später in "Sophia" umbenannt wurde. Hauptziele der Mission waren, Schleuser-Boote abzufangen und zu zerstören sowie die libysche Küstenwache zu trainieren. 2016 stieg erneut die Zahl der Schiffsunglücke im zentralen Mittelmeer: Rund 4.500 Menschen starben auf der Überfahrt. Weitere Hilfsorganisationen statteten eigene Rettungsschiffe aus: "Save the Children", die niederländische Organisation "Boat Refugee Foundation", die spanische "Proactiva Open Arms" sowie die deutschen Organisationen "SOS Mediterranee", "Sea Eye" und "Jugend Rettet". 2017 ging die Zahl der Toten im Mittelmeer zurück. Dass weniger Menschen starben, sei zum Großteil auf die Arbeit der NGOs zurückzuführen, sagte das Forschungsteam "Forensic OceanographyForensic Oceanography, "Blaming the Rescuers", 2017, Kapitel 3 "Increasing the Dangers of Crossing?"". Rettungsmannschaften der NGOs patrouillierten in der Regel viel näher an der libyschen Küste als die Schiffe der italienischen Küstenwache und der EU-Operationen "Sophia" und "Triton".QuelleEuropean Political Strategy Centre, Irregular Migration via the Central Mediterranean, Seite 4
Dennoch standen die NGOs seit dem Sommer 2017 in der Kritik: Wiederholt wurde ihnen vorgeworfen, mit Schleuserbanden zusammenarbeiten. Mehrere Staatsanwaltschaften in Italien und auf Malta haben in diesem Sinne gegen NGOs ermittelt. Sechs Schiffe wurden seitdem beschlagnahmt und zwei wurden gezwungen, im Hafen zu bleiben, weil ihnen die Flagge entzogen wurde. Bis jetzt hat sich kein Verdacht erhärtet.QuelleMDR, Nur ein Rettungsschiff im Mittelmeer, 15.5.2019
Im Zuge der folgenden Debatte führte die italienische Regierung im Juli 2017 einen Verhaltenskodex für NGOs ein, der die Aktivität der Organisationen unter strenge staatliche Kontrolle stellte. Gleichzeitig verstärkte die libysche Küstenwache mit Unterstützung der italienischen Marine die Kontrollen auf der zentralen Mittelmeer-Route. Dabei haben Hilfsorganisationen wiederholt ÜbergriffeMission Lifeline, Proactiva Open Arms, Sea Watch der libyschen Kräfte auf ihre Schiffe sowie auf Flüchtlingsboote gemeldet.
Mehrere NGOs haben daraufhin ihre Beteiligung an Rettungsoperationen im Mittelmeer reduziert.