Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft? Wie ist die Kategorie "Ausländerkriminalität" in der Polizeilichen Kriminalstatistik zu verstehen? Diese Rubrik stellt den aktuellen Forschungsstand sowie Zahlen, Daten und Fakten zum Thema Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft vor. Das Thema besprechen wir auch in einer Podcast-Folge des Mediendienst-Podcasts Einwanderungsland.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft?
Zwischen Herkunft und Kriminalität gibt es keinen direkten Zusammenhang. Aber einen indirekten: Migrant*innen sind überproportional oft von Faktoren betroffen, die Kriminalität begünstigen: Etwa eine schlechte soziale und ökonomische Lage oder Gewalterfahrungen, wie sie einige Asylsuchende auf der Flucht erleben. Eine Podcast-Folge zu dem Thema finden Sie hier, ein Interview mit Fokus auf die Polizeiliche Kriminalstatistik hier.Quelle
Begehen Ausländer mehr Straftaten als Deutsche?
Die Frage, ob Ausländer mehr Straftaten als Deutsche begehen, kann man nicht klar beantworten. Da nicht alle kriminellen Handlungen aufgedeckt und registriert werden, gibt es ein großes Dunkelfeld.Quelle
Eine Annäherung bietet die Kategorie Ausländerkriminaliät in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Diese ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass sie alle Straftaten enthält, die die Polizei "endbearbeitet" hat. Wenn allerdings vor Gericht ein Freispruch erfolgt, wird dies nicht mehr in der PKS abgebildet.Quelle
Straftaten durch Ausländer
2023 registrierten die Behörden in der Polizeilichen Kriminalstatistik insgesamt rund 2,2 Millionen Tatverdächtige. 41,1 Prozent waren "nichtdeutsche" Tatverdächtige (923.269). Sie sind damit in der Polizeilichen Kriminalstatistik weit überproportional vertreten: Der Anteil ausländischer Staatsbürger an der gesamten Wohnbevölkerung in Deutschland liegt nur bei 15 Prozent.Quelle
Warum sind Ausländer überproportional in der Polizeilichen Kriminalstatistik vertreten?
Die Antwort auf diese Frage finden Sie auch im Mediendienst-Artikel hier.
Teilweise lässt sich das durch die Statistik selbst begründen:
- Unter Straftaten von "Nichtdeutschen" werden alle Straftaten von Ausländeren erfasst – auch von solchen, die etwa gezielt nach Deutschland einreisen, um eine Straftat zu begehen. Es handelt sich also nicht bei allen tatverdächtigen Ausländern, die in den Kriminalstatistiken erfasst werden, um im Deutschland lebende Menschen. Beispiel: Laut Polizeilicher Kriminalstatistik hatten im Jahr 2019 insgesamt 11,8 Prozent der ermittelten ausländischen Tatverdächtigen ihren Wohnsitz im Ausland, bei weiteren 12 Prozent konnte die Polizei keinen (festen) Wohnsitz ermitteln.Quelle
- Bei den Straftaten werden auch sogenannte ausländerrechtliche Verstöße mitgezählt. Das sind Verstöße, die überhaupt nur von Ausländern, nicht aber von Deutschen begangen werden können (zum Beispiel illegale Einreise). Die PKS gibt daher auch „Straftaten ohne ausländerrechtliche Verstöße“ an: 2023 wurden demnach 2.017.552 Tatverdächtige insgesamt registriert, davon 1.322.571 deutsche und 694.981 nichtdeutsche Tatverdächtige (34,4 Prozent).Quelle
Teilweise lässt sich das durch das Alter, das Geschlecht und die soziale Lage der Tatverdächtigen erklären:
- Geschlechter- und Alterszusammensetzung: Herkunftsübergreifend zeigt sich, dass junge Männer häufiger Straftaten begehen als andere Personengruppen. Unter Migrant*innen – insbesondere unter Geflüchteten – sind junge Männer prozentual überrepräsentiert und sind demnach potenziell häufiger in Kriminalitätsstatistiken zu finden.Quelle
- Auch schwierige Lebensbedingungen erhöhen das statistische Risiko, Straftaten zu begehen. Migrant*innen sind häufiger mit belastenden Lebensumständen konfrontiert als Nichtmigrant*innen. So ist beispielsweise das Armutsrisiko höher und die Möglichkeiten der Teilhabe – z.B. am Arbeitsmarkt –, geringer. Auch Gewalterfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht zählen zu den belastenden Faktoren.Quelle
- Es gibt Hinweise darauf, dass Angehörige von Minderheiten überdurchschnittlich oft von der Polizei kontrolliert werden und öfter von Opfern angezeigt werden als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft.Quelle
Wie viele Straftaten begehen Flüchtlinge?
Straftaten durch Flüchtlinge werden nicht explizit in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst. Allerdings gibt es sowohl in der PKS als auch im "Bundeslagebericht Kriminalität im Kontext von Zuwanderung" vom Bundeskriminalamt (BKA) die Zahl der tatverdächtigen "Zuwanderinnen/Zuwanderer". Als "Zuwanderer" bezeichnet das BKA Asylbewerber*innen, Schutzberechtigte und Asylberechtigte, Geduldete, Kontingent- und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Menschen, die sich unerlaubt in Deutschland aufhalten. Zur Kategorie "Zuwanderinnen/Zuwanderer" zählt das BKA damit auch Menschen, die gezielt einreisen, um eine Straftat zu begehen.Quelle
Die Zahlen
2023 lag die Zahl der "tatverdächtigen Zuwanderer" nach dieser Definition bei rund 402.514 Menschen. Zählt man ausländerrechtliche Verstöße nicht mit (da diese überhaupt nur von nicht-deutschen Tatverdächtigen begangen werden können), so liegt die Zahl der tatverdächtigen Zuwanderer bei 178.581.Quelle
Wer sind die Tatverdächtigen?
Von den "tatverdächtigen Zuwanderern" waren 2022 84,1 Prozent männlich. 57,2 Prozent waren jünger als 30 Jahre. Die meisten Zuwanderer kamen 2022 aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan und dem Irak. Sie sind aber nicht überproportional oft kriminell in Erscheinung getreten, etwa Personen aus der Ukraine deutlich unterproportional. Überproportional vertreten sind Tatverdächtige etwa aus den Ländern Nigeria, Algerien, Marokko und Georgien.Quelle
Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Anteilen mit Bezug auf die Herkunftsländer?
- Zum einen lässt es sich aus der übrigen Statistik ableiten: Die meisten Tatverdächtigen sind Männer (84 Prozent). Die Länder, aus denen überwiegend Männer nach Deutschland zuwandern, sind daher auch stärker in der Kriminalitätsstatistik wiederzufinden. Ein Land wie etwa Syrien hingegen ist unterproportional stark vertreten. Aus Syrien konnten wegen der hohen Schutzquoten in Deutschland und der daraus resultierenden Möglichkeit der Familienzusammenführung auch viele Kinder und Frauen nach Deutschland einreisen.
- In der Forschung werden daneben laut dem Kriminologen Christian Walburg zwei weitere Erklärungsansätze diskutiert. Zum einen die These, dass aus bestimmten Ländern nicht ein Querschnitt der Bevölkerung auswandert (und nach Deutschland einwandert), sondern tendenziell häufiger Personen, die ein höheres Risiko für Kriminalität haben: Etwa, weil sie tendenziell stärker armutsgefährdet sind oder früher selbst Gewalt erfahren haben.Quelle
- Die andere in der Forschung diskutierte These ist laut Walburg, dass die Menschen, denen in Deutschland weniger Chancen und Perspektiven geboten werden, ein höheres Risiko haben, straffällig zu werden. Personen aus Staaten mit einer hohen Schutzquote in Deutschland – also einer guten Chance, ein Bleiberecht zu erhalten – wie etwa Iraker und Syrer haben damit auch Aussichten auf Integrations- und Arbeitsmöglichkeiten. Personen aus Ländern mit geringer Schutzquote – etwa Algerien, Tunesien, Marokko – bekommen diese Chance oft nicht.Quelle
Messerkriminalität: Statistik und Tatverdächtige
Die Zahl der „Messerangriffe“ in Deutschland hat 2023 zugenommen. Messerangriffe werden seit 2020 vom Bundeskriminalamt (BKA) sowie der Mehrheit der Landeskriminalämter erfasst. Als Messerangriffe gelten "Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird."Quelle
Absolute Zahl der "Messerkriminalität" steigt – relative nicht
Absolut ist die Zahl der "Messerangriffe" 2022 auf 2023 laut Polizeilicher Kriminalstatistik gestiegen (siehe Grafik): es gab 9,7 Prozent mehr solche Angriffe in der Kategorie "gefährliche und schwere Körperverletzungen" und 16,6 Prozent mehr bei Raubdelikten. Allerdings ist auch die Zahl der Körperverletzungen und Raubdelikte insgesamt gestiegen (plus 6,8 Prozent und plus 17,4 Prozent). Schaut man sich die beiden Anstiege im Verhältnis an – also, wie sich der Anteil der "Messerangriffe" innerhalb des jeweiligen Straftatbereichs verändert hat – ergibt sich folgendes Bild: Bei Körperverletzungen stieg der Anteil 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 0,2 Prozentpunkte, bei Raubdelikten gab es einen leichten Rückgang um 0,1 Prozentpunkte.Quelle
Ähnliches Bild in den Bundesländern
Die Daten der polizeilichen Kriminalstatistiken der Bundesländer bestätigen die Tendenz. In fast allen Bundesländern (mit Ausnahme des Saarlands) gab es 2023 mehr „Messerangriffe“ als im Vorjahr. Im Durchschnitt nahm die Fallzahl um rund 15 Prozent zu. In allen Bundesländern stieg die Zahl der „Messerangriffe“ parallel zur Zahl der Körperverletzungen und anderer Rohheitsdelikte.Quelle
"Messerkriminalität" ist kein einheitliches Phänomen
Unter "Messerkriminalität" fallen unterschiedliche Konstellationen, etwa
- Situationen, in denen gezielt ein Messer mitgeführt wird, um ein bestimmtes Delikt zu begehen: zum Beispiel einen Raub, eine Nötigung oder eine Körperverletzung im häuslichen Bereich
- Psychische Ausnahmesituationen: wenn etwa eine psychisch kranke Person auf eine oder mehrere Personen einsticht
- Situationen, in denen Personen zwar ein Messer dabeihaben, der Einsatz des Messers aber nicht konkret geplant ist. Im Falle eines Konflikts oder einer Eskalation kommt es dann schneller zum Einsatz eines Messers, da es gerade verfügbar ist. Laut dem Kriminologen Prof. Dr. Stefan Kersting macht die letzte Konstellation den größten Teil der sogenannten Messerkriminalität aus.
Die Tatverdächtigen bei Messerkriminalität sind in der Regel Männer (in knapp 90 Prozent der Fälle) und überwiegend Erwachsene über 21 Jahre. In den Bundesländern, die die Nationalität der Tatverdächtigen in der polizeilichen Kriminalstatistik erfassen, sind zwischen einem Drittel und der Hälfte von ihnen nicht deutsch (Baden-Württemberg: ca. 55 Prozent, Hessen: ca. 50 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern: 35 Prozent, Niedersachsen: 41 Prozent, Nordrhein-Westfalen: 47,4 Prozent, Sachsen: 49,2 Prozent, Sachsen-Anhalt: 35 Prozent, Thüringen: 41 Prozent). Ausländer*innen sind unter den Tatverdächtigen also überrepräsentiert – sowohl im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung als auch zur männlichen Bevölkerung zwischen 14 und 60 Jahren.Quelle
Etwas mehr Jugendliche führen ein Messer bei sich als früher
Repräsentative Dunkelfeldstudien unter Schüler und Schülerinnen in Niedersachsen über mehrere Jahre hinweg (2013 – 2022) zeigen: Etwas mehr Jugendliche haben gelegentlich ein Messer dabei. Warum etwas mehr Jugendliche sich bewaffnen, ist bislang nicht erforscht. Kriminologen vermuten, dass Angst, Männlichkeitsnormen und fehlende Konfliktfähigkeit die Gründe sind.Quelle
Welche Rolle spielt die Nationalität?
Wie oben dargelegt, sind ausländische Tatverdächtige sowohl in der Kriminalstatistik generell, als auch im Bereich der Messerkriminalität, überrepräsentiert. Warum das so ist, hat der Mediendienst Integration hier aufgeschlüsselt. Es gibt zahlreiche verzerrende Faktoren, die dazu führen, dass Ausländer eher in der Kriminalstatistik landen als Deutsche. Aber: Auch abseits der Verzerrung bleibt ein überproportionaler Anteil von Ausländern in der Kriminalstatistik übrig. Grund dafür ist allerdings ist nicht die Nationalität an sich, sondern Faktoren, die auch bei Deutschen Kriminalität befördern: Armut, geringe Bildung, kriminelle Freundeskreise, eigenes Gewalterleben und gewaltverherrlichende Männlichkeitsnormen. Diese Faktore liegb bei Ausländern und Migranten öfter vor als bei Deutschen.Quelle
Dasselbe gilt auch für Jugendliche: Nicht die eigene oder familiäre Migrationserfahrung ist Ursache für Kriminalität, sondern die damit oft einhergehenden ungünstigeren Bedingungen. So ist zum Beispiel die Armutsgefährdung bei unter 15- bis 17-Jährigen mit Migrationshintergrund fast dreimal so hoch wie unter Personen ohne Migrationshintergrund (2021: 13,8 zu 37,4 Prozent).Quelle
Konkret zum Thema Messer ergab die jüngste repräsentative Dunkelfeldstudie unter Schülern und Schülerinnen in Niedersachsen (2022), dass die befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwas seltener als Jugendliche ohne Migrationshintergrund ein Messer bei sich führen. Allerdings setzten die Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwas eher eine Waffe ein. Die Unterschiede sind allerdings so klein, dass von einer ähnlichen bis gleichen Verwendung von Messern unter Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund gesprochen wird.Quelle
Eine vergleichbare Dunkelfeldstudie zu Erwachsenen gibt es nicht. Eine Studie, die Verurteilungen von Straftätern mit Schwerpunkt auf Messerkriminalität untersuchte, kommt zu dem Schluss dass unter anderem Gewalterfahrungen und psychische Belastungen Risikofaktoren für Messerkriminalität sind.Quelle
Jugendkriminalität und Herkunft
Wenn es um kriminelle Jugendliche geht, spielt in Diskussionen schnell die Herkunft eine Rolle. Es hilft der Blick auf zwei Quellen: Zum einen die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS; das sogenannte Hellfeld) und zum anderen Befragungsstudien, in denen Jugendliche selbst berichten, ob sie eine Straftat begangen haben (das sogenannte Dunkelfeld). Sie zeigen:
- Die bundesweite Polizeiliche Kriminalstatistik gibt keinen Aufschluss darüber, wie viele Straftaten Jugendliche mit Migrationshintergrund begehen. Der Migrationshintergrund wird nicht erfasst. Was zu sehen ist: Unter allen deutschen Jugendlichen ist der Anteil der Tatverdächtigen in den letzten 20 Jahren deutlich zurückgegangen. Zugleich waren unter den deutschen Jugendlichen immer mehr Personen mit Migrationshintergrund.Quelle
- Zahlen gibt es zu ausländischen Jugendlichen. In der Polizeilichen Kriminalstatistik sind ausländische Jugendliche überdurchschnittlich vertreten: 2023 wurden 188.257 Tatverdächtige zwischen 14 und 18 Jahren erfasst, 50.845 hatten einen ausländischen Pass, also 27 Prozent. In der Bevölkerung zwischen 15 und 20 Jahren lag der Anteil ausländischer Personen bei rund 15 Prozent. Die Statistik ist aber verzerrt: Es sind etwa Straftaten enthalten, die ausländische Tourist*innen begehen. Zudem zeigen Studien, dass Personen, die als "fremd" wahrgenommen werden, häufiger von der Polizei kontrolliert und auch häufiger angezeigt werden.Quelle
- Belastbarere Zahlen gibt es für Berlin und NRW: Dort werden ausländische Jugendliche mit Wohnsitz in den Bundesländern etwa doppelt so häufig tatverdächtig wie deutsche Jugendliche. Quelle
- Befragungsstudien zeigen: Jugendliche mit Migrationshintergrund berichten nicht oder kaum häufiger davon, leichtere Delikte begangen zu haben. Bei Gewalt liegt die Rate über der von Personen ohne Migrationshintergrund.Quelle
Der Kriminologe Christian Walburg hat 2023 eine Expertise für den MEDIENDIENST zum Thema erstellt. Die finden Sie hier als PDF.
Kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Jugendkriminalität und Migration
Gründe für Kriminalität sind vielfältig: Jugendliche, die Straftaten begehen, lehnen Gewalt weniger ab. Männliche Jugendliche begehen deutlich häufiger Strataten als weibliche, oft zeigen sie ein Männlichkeitsbild, wonach ein Mann sich durch Stärke beweisen muss. Eine zentrale Rolle spielen die Freundeskreise. All das wird begünstigt durch die familiäre und ökonomische Situation:
- Eine wenig zugewandte oder gar gewaltsame Erziehung.
- Fehlender Ressourcen, um Kinder zu fördern und zu beaufsichtigen.
- Das Aufwachsen in benachteiligten Stadtteilen, dadurch etwa fehlende Freizeitmöglichkeiten.
- Mit dem sozialen Status sind oft Bildungsnachteile und schlechtere berufliche Perspektiven verbunden.
Fachleuten zufolge gibt es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Jugendkriminalität und Migration: Jugendliche mit Migrationshintergrund und ausländische Jugendliche sind sehr diverse Gruppen, mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und Erfahrungen. Sie sind häufiger von ungünstigen Bedingungen betroffen, die Kriminalität begünstigen.Quelle
So liegt etwa die Armutsgefährdung unter 15- bis 17 Jährigen fast dreimal so hoch wie unter Personen ohne Migrationshintergrund. Zudem zeigen Befragungsstudien, dass sie häufiger Gewalterfahrungen machen. Eine Rolle spielen auch Diskriminierungserfahrungen: Diese können dazu führen, dass sie sich weniger zugehörig fühlen. Besonders belastend können die Umstände für junge Geflüchtete sein, etwa in Gemeinschaftsunterkünften.Quelle
Jugendkriminalität allgemein: Bis 2015 starker Rückgang, dann Anstieg
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (das sogenannte Hellfeld) und Befragungsstudien unter Jugendlichen (das sogenannte Dunkelfeld) zeigen:
- Starker Rückgang bis 2015: Kriminelles Verhalten unter Jugendlichen ist in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen, sowohl bei leichten Vergehen als auch bei Gewaltdelikten. Diese haben sich zwischen Mitte der 2000er und Mitte der 2010er mehr als halbiert. Gründe sind Kriminologen zufolge Präventionsprogramme an Schulen, weniger gewaltsame Erziehung und eine niedrigere Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen.
- Seit 2016 ist Kriminalität unter Jugendlichen wieder etwas angestiegen: 2023 lag der Anteil von Jugendlichen, die wegen eines Gewaltdelikts von der Polizei registriert wurden, laut PKS bei 0,73 je 100 Jugendliche. Einen kurzen Einbruch gab es während der Corona-Pandemie. Jetzt werden Taten wohl teilweise "nachgeholt".Quelle
- Den Rückgang der Jugendkriminalität bis 2015 stellt auch die einzige Studie fest, die Jugendliche zu ihrem kriminellen Verhalten über mehrere Jahre befragt. Delikte wie Sachbeschädigung wurden zuletzt wieder häufiger berichtet. Auch die Akzeptanz von Gewalt unter Jugendlichen hat zuletzt signifikant zugenommen.Quelle
Befragungen zeigen auch: Jugendkriminalität ist bis zu einem gewissen Grad normal. Viele Jugendliche begehen irgendwann eine Straftat, meist leichte Delikte wie Sachbeschädigungen. Ab 16 bis 17 Jahren machen sie das bereits deutlich seltener, und mit Mitte bis Ende 20 verhalten sich nur noch wenige kriminell. Ein kleiner Teil der Jugendlichen – etwa 5 bis 7 Prozent – begehen öfter, teils auch schwere Delikte.Quelle
Was ist Clankriminalität?
Die Innenministerien und Polizeibehörden von Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben in den letzten Jahren "Clankriminalität" als Schwerpunktthema etabliert. Im Rahmen der "Politik der 1000 Nadelstiche" führt die Polizei zahlreiche Maßnahmen durch, wie etwa Personen- und Gewerbekontrollen und Razzien. Seit 2018 veröffentlicht Nordrhein-Westfalen jährlich ein "Lagebild Clankriminalität", Niedersachsen seit 2019, Berlin seit 2020.Quelle
Eine Analyse der "Lagebilder" sowie Antworten der zuständigen Innenministerien und Landeskriminalämter auf Anfrage des Mediendienst Integration zeigen:
- "Clankriminalität" ist weder gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität, noch ist es eine Unterkategorie von Organisierter Kriminalität.
- Stattdessen ist es ist eine Über-Kategorie, mit der die Polizei Ordnungswidrigkeiten und Straftaten von Personen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen angehören, zusammenfasst.
- Die als "Clankriminalität" zusammengezählten Straftaten machen in den drei Bundesländern zwischen 0,17 und 0,76 Prozent aller Straftaten aus.
- Die Polizeiarbeit und die Lagebilder in Berlin und NRW fokussieren auf bestimmte migrantische Bevölkerungsgruppen.
Zum vollständigen Factsheet hier: "Factsheet Clankriminalität: Polizeiarbeit und Lagebilder" (PDF-Download)
Fokus auf bestimmte Bevölkerungsgruppen
"Clankriminalität" ist eine Kategorie, mit der die Polizei Ordnungswidrigkeiten und Straftaten von Personen, die bestimmten Bevölkerungsgruppen angehören, zusammenfasst. "Clan" wird dabei definiert als "Gruppe von Personen, die durch eine gemeinsame ethnische Herkunft, überwiegend auch verwandtschaftliche Beziehungen, verbunden ist" (Niedersachsen) bzw. als "informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist" (Berlin und NRW).Quelle
Berlin und NRW konkretisieren in ihren Lagebildern zudem explizit, welche "gemeinsamen Abstammungsverständnisse" gemeint sind: Demnach liegt der Fokus auf arabischstämmigen, türkisch-arabischstämmigen, Mhallami-kurdischen, libanesischen und palästinensischen Personen, denen eine "Clan"-Zugehörigkeit zugeschrieben wird.
Genauere Informationen zum Fokus auf einzelne Bevölkerungsgruppen finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 2.Quelle
"Clankriminalität" ist keine Organisierte Kriminalität
Clankriminalität" wird regelmäßig als Organisierte Kriminalität (OK) beschrieben – sowohl von den Innenministerien der Bundesländer und des Bundes, als auch von Parteipolitiker*innen und Journalist*innen.Quelle
Die Lageberichte "Clankriminalität" zeigen jedoch: "Clankriminalität" ist weder gleichzusetzen mit Organisierter Kriminalität, noch ist es eine Unterkategorie davon. Organisierte Kriminalität (OK) bedeutet, dass sich mehrere Personen über längere Zeit zusammentun, um Straftaten von erheblicher Bedeutung zu begehen. "Clankriminalität" hingegen umfasst gemäß den Lagebildern der Bundesländer alle möglichen Verstöße gegen Straftat- und Ordnungswidrigkeitstatbestände von Personen, die als „Clan“-zugehörig markiert werden – egal, ob die Tat alleine oder gemeinsam begangen wird und unabhängig von der Schwere des Vergehens. Zwar werden zur „Clankriminalität“ auch OK-Verfahren gezählt – diese stellen aber nur einen kleinen Anteil von „Clankriminalität“ dar. Den Hauptteil machen Ordnungswidrigkeiten, Verkehrsdelikte und Allgemeinkriminalität aus. Quelle
Für die drei Bundesländer ergibt sich aus den neuesten Lagebildern (2022) folgendes Bild:
Berlin: In Berlin wurden unter "Clankriminalität" zusammengefasst:
• 9 OK-Verfahren (davon 2 aus dem aktuellen Berichtsjahr, 7 fortgeführte aus dem Vorjahr),
• 872 Straftaten der Allgemeinkriminalität – davon 14 % Verkehrsstraftaten – und
• 89 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
NRW: In NRW wurden unter "Clankriminalität" zusammengefasst:
• 14 OK-Verfahren (davon 3 aus dem aktuellen Berichtsjahr, 11 fortgeführte aus dem Vorjahr),
• 6.573 Straftaten der Allgemeinkriminalität – davon 10,5 % Verkehrsstraftaten – und
• 2.357 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
Niedersachsen: In Niedersachsen wurden unter "Clankriminalität" zusammengefasst:
• 10 OK-Verfahren,
• 3.986 Straftaten der Allgemeinkriminalität und
• 529 Ordnungswidrigkeiten.Quelle
Mehr dazu dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 3.Quelle
"Clankriminalität" stellt minimalen Anteil an Gesamtkriminalität dar
"Clankriminalität" wird regelmäßig als zentrales Sicherheitsproblem Deutschlands dargestellt. Ein Vergleich der "Clankriminalität" mit den regulären Polizeilichen Kriminalitätsstatistiken (PKS) der Bundesländer zeigt allerdings: Alle als "Clankriminalität" kategorisierten Straftaten machen zusammengezählt nur einen minimalen Anteil der Kriminalität im jeweiligen Bundesland aus.
- In Berlin 0,17 Prozent
- In NRW 0,48 Prozent
- In Niedersachsen 0,76 Prozent.Quelle
Hinzu kommt: Die Zahlen der PKS und die als "Clankriminalität kategorisierten Straftaten sind nicht unmittelbar vergleichbar. Die tatsächlichen Prozentsätze der "Clankriminalität" dürften noch niedriger liegen.
Mehr dazu dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 5.Quelle
Das „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“ als Maßstab
Das oben dargelegte Missverhältnis zwischen behaupteter und tatsächlicher Größe des Sicherheitsproblems bestätigt das Innenministerium Niedersachsen im Lagebild explizit: "Kriminelle Clanstrukturen sind in Niedersachsen präsent. Wenngleich sie quantitativ sowohl in Bezug auf die Tatverdächtigen und Beschuldigten als auch in Bezug auf die Ermittlungsverfahren bei Betrachtung des Gesamtvolumens krimineller Handlungen in absoluten Zahlen kaum ins Gewicht fallen, beeinträchtigen sie das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und fordern die Strafverfolgungsbehörden in einem besonderen Umfang. Hier besteht ein deutliches Missverhältnis zwischen ihrer zahlenmäßigen, statistischen Präsenz und der ihnen im Rahmen von Einsatzbewältigungen zu widmenden Aufmerksamkeit."Quelle
Mehr dazu, auch zu Berlin und NRW, finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 5.Quelle
Verfassungsrechtliche Bedenken
Im Jahr 2022 unternahm die Berliner Polizei 783 Maßnahmen im Bereich der "Clankriminalität", in NRW waren es im selben Zeitraum mindestens 625 Verbund-Kontrolleinsätze. Dazu gehören etwa Personenkontrollen, Gewerbekontrollen und Razzien. Niedersachsen konnte keine Zahlen zu Maßnahmen im Bereich "Clankriminalität" nennen.Quelle
Diese polizeilichen Maßnahmen sind laut Dr. Doris Liebscher rechtlich als Grundrechtseingriffe in den Artikel 3 Grundgesetz einzuordnen. Liebscher ist Verfassungsrechtlerin und Leiterin der Ombudsstelle für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz. Um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen, müsse die Polizei mit empirischen Daten konkret darlegen, dass genau diese Bevölkerungsgruppe eine erhöhte Straffälligkeit aufweise. Das macht die Polizei laut Liebscher in den "Lagebildern Clankriminalität" aber nicht. Im Gegenteil: Der überwiegende Teil der Anzeigen betreffe Verkehrsordnungswidrigkeiten, Straftaten gegen das Betäubungsmittelgesetz und Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. Das zeigten die Zahlen aus den Lagebildern, aus kleinen parlamentarischen Anfragen und einer Studie zur Gewerbeüberwachung. Aus diesen Daten ergebe sich keine erhöhte Straffälligkeit der betroffenen Bevölkerungsgruppen. "Wenn das 'Gefühl der Bevölkerung' und nicht eine echte Faktenlage ausschlaggebend ist, dann ist das rechtswidrig" so Liebscher.Quelle
Genauere Informationen dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 7.Quelle
Fragliche Effektivität von ethnisierender Herangehensweise
"An Ethnien anzuknüpfen ist nicht nur rechtlich problematisch, es ist auch polizeilich nicht effektiv" sagt die Kriminologin Daniela Hunold. Sie arbeitet seit vielen Jahren zum Thema "Clankriminalität". Von 2019 bis 2022 war sie im Landeskriminalamt Bremen tätig, wo sie unter anderem mit der Analysestelle Clankriminalität zusammenarbeitete. Sie sagt: "Suggeriert wird hier ja, dass es für die Kriminalität, die von Angehörigen der als "Clans" bezeichneten Großfamilien begangen wird, eine bestimmte polizeiliche Herangehensweise bräuchte, nämlich eben die der "Clankriminalitäts"-Bekämpfung. Das kann ich aus polizeilicher und kriminologischer Perspektive nicht bestätigen. Da wird ein Zusammenhang suggeriert, der so einfach nicht existiert. Letztlich gibt es in den entsprechenden Bundesländern aber politischen Druck, mit diesem Konstrukt weiterzuarbeiten", so Hunold.
Genauere Informationen dazu finden Sie im Factsheet (PDF) ab Seite 8.Quelle
Clankriminalität: Wer sind die "Clans"?
Sogenannte arabisch-türkische Großfamilien stehen seit Jahren im Zentrum politischer und medialer Debatten. Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit mehreren Jahren im Milieu der arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien (sogenannte Mḥallamīya). Er hat Mitglieder der Familien über mehrere Jahre hinweg begleitet und interviewt. Ebenso sprach er mit Sicherheitsbehörden und Sozialarbeiter*innen. In einer Expertise (2021) für den MEDIENDIENST stellt er die Ergebnisse seiner Forschung vor und zeichnet die Geschichte der Familien nach. In einer weiteren Expertise (2023) beschreibt Jaraba die Familienstrukturen und wo dort Kriminalität stattfindet. Zudem geht er Diskriminierungserfahrungen der Familienmitglieder ein.
Die zentralen Ergebnisse:
- Die Großfamilien sind keineswegs eine homogene Gruppe unter der Führung eines Clan-Chefs. Im Gegenteil: Es gibt Meinungsdifferenzen und Spaltungen unter den Familienmitgliedern. Viele Familienangehörige kennen sich gar nicht.
- Anders als medial und polizeilich dargestellt findet Kriminalität nicht innerhalb der Großfamilie statt, sondern innerhalb von "Sub-Sub-Clans". Auf dieser Ebene gibt es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und auch zentrale Führungspersonen.
- Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell, aber sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik und suchen diese oft auch aktiv. Es gibt viel interne Kritik an straffälligen Familienmitgliedern.
- In Deutschland erleben die Familienmitglieder Ausgrenzung und Diskriminierung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei.
Jaraba schätzt, dass heute zwischen 35.000 und 50.000 Personen in Deutschland den Familien angehören.
Ein Leben in Unsicherheit
Die Geschichte der Familien geht zurück in die Provinz Mardin im Südosten der Türkei. Aufgrund schwieriger Lebensbedingungen und politischer Unterdrückung sind viele von ihnen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dort in den Libanon umgesiedelt. Hier haben sie Diskriminierung und Marginalisierung erlebt – bis der Bürgerkrieg sie Ende der 70er Jahre zwang, das Land in Richtung Europa zu verlassen. Sie kamen als staatenlose Flüchtlinge nach Deutschland, ihre Asylanträge wurden in der Regel abgelehnt. Seitdem lebten viele von ihnen als Geduldete. Sie stießen deshalb immer wieder auf bürokratischen Hürden – etwa bei der Arbeitssuche oder Amtsbesuchen – und konnten sich so kein stabiles Leben aufbauen.
Familienstruktur: Kein einheitlicher "Clan" und kein "Clan"-Oberhaupt
Die "Clans" haben sich im Verlauf der Zeit stark verändert. Vor hundert Jahren waren die "Clans" noch überschaubar und hatten eine zentrale Führung. Mittlerweile haben die einzelnen "Clans" zahlreiche Sub-Gruppen und Sub-Sub-Gruppen (sogenannte bayt). Was unter "Clans" in öffentlichen Debatten verstanden wird, sind oft Gruppen von mehreren hundert oder tausend Personen. Die haben zwar denselben Nachnamen, viele Angehörige kennen sich aber nicht, arbeiten nicht zusammen und halten auch nicht zusammen. Es gebe deswegen auch kein Oberhaupt, welches zentrale Autorität innehabe, so Jaraba. Wenn es Strukturen des Zusammenhalts gebe – in denen teilweise auch Kriminalität stattfindet – passiert das laut Jaraba auf der Ebene der Sub-Sub-Gruppen.
Kritik an straffälligen Familienangehörigen
Manche Angehörige der Großfamilien protzen öffentlich mit kriminellen Aktivitäten. Die meisten Familienmitglieder distanzieren sich Jaraba zufolge aber intern von den kriminellen Verwandten. Einige haben sogar Gruppen und Initiativen gegründet, um die Aktivitäten der straffälligen Mitglieder öffentlich zu verurteilen.
In der Regel wollen Angehörige aber nicht mit der Polizei zusammenarbeiten, so Jarabas Erkenntnis. Sie haben wenig Vertrauen in staatliche Institutionen. Das liegt laut Jaraba unter anderem daran, dass sie sich aufgrund ihres Familiennamens unter Generalverdacht gestellt fühlen. "Um die Menschen für sich zu gewinnen, muss die Polizei Vertrauen zu diesen Gruppen aufbauen und Brücken schlagen", schreibt Jaraba.
Der Begriff "Clans" und "Clankriminalität"
Eine Studie (2023) der Hochschule für Polizei, der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und der Universität Bielefeld stellt fest: Die Begriffe "Clan" und „Clankriminalität“ sind unscharf und als analytische Kategorien problematisch; sie werden wie selbstverständlich verwendet, obwohl ihre Bedeutung ständig wechselt. Oft werde eine Nähe von „Clankriminalität“ zu Organisierter Kriminalität hergestellt. Die meisten Straftaten, die unter „Clankriminalität“ zusammengefasst werden, hätten aber keinerlei Nähe zu Organisierter Kriminalität und seien häufig sogar nur Ordnungswidrigkeiten. Die Berichterstattung zu „Clankriminalität“ geht laut der Studie vorrangig auf das Handeln von Polizei, Politik und Justiz zurück. Das Handeln von „Clans“ oder „Clanmitgliedern“ selber sei selten der Ausgangspunkt für die Berichterstattung.Quelle
Zur Expertise: "Arabisch-türkische Großfamilien: Familienstruktur und 'Clankriminalität'" (2023)
Zur Expertise "Arabische Großfamilien und die "Clankriminalität" (20211)
Zum HowTo für Journalist*innen: "Wie über Clankriminalität berichten?"
Wie viele islamistische Straftaten gibt es?
2023 registrierte das Bundeskriminalamt 990 islamistische Straftaten, im Jahr 2022 381. Das ist ein Anstieg um rund 160 Prozent.Quelle
Wie werden islamistische Straftaten erfasst?
Die Landeskriminalämter übermitteln dem Bundeskriminalamt alle politisch motivierten Straftaten. Die Länder ordnen sie ausgehend von den Motiven zur Tatbegehung und den Tatumständen verschiedenen „Themenfeldern" zu (u. a. dem Oberthemenfeld „Islamismus/Fundamentalismus“) sowie einem „Phänomenbereich“ (-links-, -rechts-, -ausländische Ideologie-, -religiöse Ideologie-, -sonstige Zuordnung-), abhängig von den ideologischen Hintergründen und Ursachen der Tatbegehung. Straftaten aus islamistischer Motivation werden im Phänomenbereich PMK -religiöse Ideologie- unter dem Oberthemenfeld „Islamismus/Fundamentalismus“ erfasst.
Wie oft werden Menschen mit Migrationshintergrund Opfer von Straftaten?
Genaue Zahlen, wie oft Menschen mit Migrationshintergrund Opfer von Straftaten werden, gibt es nicht. Eine Annäherung bieten aber folgende Statistiken:
- Die jährliche "Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)": 2023 registrierte das BKA rund 1,25 Millionen Personen, die Opfer von Straftaten wurden. 310.095 Betroffene waren Ausländer*innen – das ist ein Anteil von 24,8 Prozent aller Opfer. Von ihnen waren 66.586 "Zuwanderer". Ausländer*innen werden damit überproportional oft Opfer von Straftaten – ihr Anteil in der Bevölkerung liegt bei 14,9 Prozent.Quelle
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Bericht des Bundeskriminalamts zur "Politisch motivierten Kriminalität 2022": Im Jahr 2022 registrierte das BKA 10.038 rassistische Straftaten.Quelle
- Die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl führen eine "Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle". 2021 gab es demnach 21 Übergriffe gegen Asylsuchende und ihre Unterkünfte (Stand: Juli 2022; es gibt regelmäßig Nachmeldungen).Quelle
- Zahlen zu rassistischen Gewalttaten veröffentlicht auch der "Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt" (VBRG). Erfasst sind hier aber nur Taten in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und den fünf ostdeutschen Bundesländern. 2021 zählte der VBRG 816 rassistische Gewalttaten.Quelle
Angriffe auf Flüchtlinge
Angriffe auf Flüchtlinge
Zwischen Januar und September 2024 gab es bisher 1.177 politisch motivierte Angriffe auf Geflüchtete. 155 Mal waren Flüchtlingsunterkünfte das Ziel politisch motivierter Angriffe. Die Angaben sind vorläufig, es können Nachmeldungen folgen.Quelle
2023 gab es 2.488 politisch motivierte Angriffe auf Geflüchtete. Die Zahlen sind im Vergleich zum Vorjahr (1.420 Angriffe) um 75 Prozent gestiegen. 321 dieser Taten waren Gewaltdelikte, 219 Personen wurden verletzt. Zudem gab es 179 Angriffe auf Unterkünfte von Geflüchteten. Fast 90 Prozent der Taten waren politisch rechts motiviert. Bereits 2022 war die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.Quelle
Im Jahr 2021 gab es 1.254 solcher politisch motivierten Delikte, so die Angaben der Bundesregierung. Bei einem Großteil handelte es sich um Delikte gegen Geflüchtete außerhalb ihrer Unterkünfte (1.184). Bei allen Straftaten wurden insgesamt 165 Personen verletzt, unter ihnen befanden sich auch 10 Kinder. Die meisten dieser Straftaten (mehr als 90 Prozent) zählen die Behörden in den Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität (PMK-rechts).Quelle
Aufklärungsquote unter 10 Prozent
Eine Recherche des Südwestrundfunks und Bayerischen Rundfunks zeigt, dass Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte nur selten gerichtlich geahndet werden. Zwischen 2015 und 2018 hätten die Innenministerien der Bundesländer insgesamt 2.558 politisch motivierte Übergriffe auf Asylunterkünfte registriert, jedoch kam es in nur 206 Fällen zu Verurteilungen. Die Aufklärungsquote liege daher bei unter zehn Prozent.Quelle
Wie viele rassistische Straftaten gibt es?
2023 zählte das Bundesinnenministerium 15.087 "fremdenfeindliche" Straftaten. Das ist ein deutlicher Anstieg um 50 Prozent im Vergleich zu 2022 (10.038) und ein neuer Höchststand. Bereits im Vorjahr war die Zahl gestiegen. Rund 77 Prozent der "fremdenfeindlichen" Straftaten waren 2023 politisch rechts motiviert.Quelle
Die Bezeichnung "fremdenfeindlich" wird von Fachleuten kritisiert, da es sich bei Betroffenen von Rassismus nicht notwendigerweise um "Fremde" (etwa Ausländer*innen) handelt, sondern zum Beispiel um Schwarze Deutsche oder Deutsche mit Einwanderungsgeschichte. Der Begriff grenze aus, weil er vorgibt, dass die Personen, gegen die sich die feindliche Einstellung richtet, fremd und nicht Teil der deutschen Gesellschaft seien. Korrekter wäre der Begriff "rassistische" Straftaten. Das Bundesinnenministerium benutzt den Begriff der "rassistischen" Straftaten zwar auch. Darunter fallen aber nur ein Teil der "fremdenfeindlichen" Straftaten: nämlich solche, bei denen sich die Motivlage auf die zugeschriebene oder tatsächliche ethnische Zugehörigkeit und/oder Hautfarbe des Opfers bezieht.Quelle
Wie aussagekräftig sind behördliche Zahlen?
In einer Expertise für den MEDIENDIENST schreibt die Rechtsanwältin Kati Lang: Viele rassistische Straftaten tauchen in der Statistik des BMI nicht auf. Das liege unter anderem daran, dass viele Betroffene Vorfälle nicht anzeigen. Zudem seien Polizeibehörden nicht ausreichend für Rassismus sensibilisiert, um rassistische Straftaten als solche zu erkennen. Opferberatungsstellen erfassen daher deutlich mehr Delikte als die Behörden, so Lang.Quelle
Zahlen zu rassistischen Gewalttaten veröffentlicht auch der "Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt" (VBRG). 2023 zählte der VBRG 1.446 rassistische Gewalttaten - ein Anstieg um fast ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr (1.088). Erfasst sind hier aber nur Taten in elf Bundesländern.Quelle
Wie können Betroffene reagieren?
Eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zeigt: Betroffene von Rassismus können sich oft nicht richtig zur Wehr setzen. Für die Studie wurden 2.528 Fälle rassistischer Diskriminierung ausgewertet. Nur knapp ein Viertel der Betroffenen hat die Diskriminierung bei einer Antidiskriminierungsstelle gemeldet, öffentlich auf die Diskriminierung aufmerksam gemacht oder Klage eingereicht. Als mögliche Ursachen nennen die Forscher*innen strukturellen Rassismus und die Angst der Betroffenen, als "Problemverursacher" zu gelten.Quelle
Wie viele antisemitische Straftaten gibt es?
Die Zahl antisemitischer Straftaten hat sich verdoppelt
In den ersten drei Quartalen 2024 wurden vorläufigen Angaben zufolge 3.370 antisemitische Straftaten erfasst, 89 davon Gewalttaten. Im gesamten Jahr 2023 wurden 5.164 antisemitische Straftaten erfasst, 148 davon Gewalttaten. Die antisemitischen Straftaten haben sich von 2022 auf 2023 verdoppelt (2022: 2.641 Straftaten), die meisten Straftaten wurden nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober verübt. Auch die Gewalttaten haben von 2022 auf 2023 deutlich zugenommen (2022: 88)Quelle
Die antisemitischen Straftaten reichen von Sachbeschädigung, über verbale Hetze bis hin zu körperlichen Attacken gegen Jüdinnen und Juden. 2023 wurden 91 Körperverletzungen registriert (2022: 61). Laut Zivilgesellschaftlichen Organisationen gibt es zunehmend Angriffe auf Gedenkstätten und Erinnerungsorte.Quelle
Antisemitische Straftaten und Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der folgenden israelischen Gegenoffensive ist ein deutlicher Anstieg antisemitischer Vorfälle und Übergriffe zu verzeichnen:
- Mehr als 10.400 politisch motivierte Straftaten erfasste das BKA seit dem 7. Oktober 2023 im Zusammenhang mit dem Nahost-Krieg (Stand 20. Dezember 2024). Darunter sind rund 4.200 antisemitische Straftaten – die meisten werden einer "ausländischen Ideologie“ oder "religiösen Ideologie" zugeordnet. Unter die Delikte fallen vor allem Sachbeschädigungen und Volksverhetzungen. Insgesamt hat sich die Zahl antisemitischer Straftaten von 2022 auf 2023 verdoppelt (siehe oben).Quelle
- Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) verzeichneten zwischen dem 7. Oktober und 31. Dezember 2.787 antisemitische Vorfälle (strafbare und nicht strafbare), darunter 5 Fälle extremer Gewalt, 76 Angriffe und 117 Bedrohungen.Quelle
- Zwischen Oktober 2023 und September hat die Beratungsstelle OFEK 1.858 Beratungsanfragen erhalten, 1.413 wegen antisemitischer Vorfälle. Zum Vergleich: Das sind mehr Anfragen als in den sechs Jahren zuvor (1.240).Quelle
- 42 Prozent der jüdischen Gemeinden in Deutschland waren 2024 von antisemitischen Vorfällen betroffen, darunter Beleidigungen, Zuschriften, Drohanrufe und Schmierereien. Das zeigt eine Umfrage des Zentralrats der Juden in Deutschland unter Vorsitzenden jüdischer Gemeinden. 63 Prozent der Gemeinden geben an, dass der Krieg in Nahost negative Auswirkungen auf die Gemeinden habe – es gibt Angst vor Angriffen und einen spürbaren Anstieg von Antisemitismus. 43 Prozent der Gemeinden sagen, dass weniger Mitglieder am Gemeindeleben teilnehmen.Quelle
- Laut BMI haben seit dem 7. Oktober antisemitische Beiträge auf den sozialen Medien deutlich zugenommen. Im Zusammenhang mit dem Krieg habe das BKA über 3.500 Löschersuchen und 290 Entfernungsanordnungen in Bezug auf terroristische Inhalte gestellt (Stand 6. Februar 2024).Quelle
Vom wem werden die antisemitischen Straftaten begangen?
Rund 60 Prozent der Straftaten 2023 waren auf das rechte Milieu zurückzuführen, rund 23 Prozent einer "ausländischen Ideologie". In den Vorjahren waren meist über 80 Prozent der Straftaten dem rechten Spektrum zuzuordnen. Der Anteil könnten aber zu hoch gelegen haben, da Straftaten bisher dem rechten Spektrum zugeordnet wurden, wenn es keine "gegenteiligen Anhaltspunkte" gab. Das ändert sich im Jahr 2024, nicht klar zuordenbare Straftaten werden jetzt in der Kategorie "Sonstige Zuordnung" erfasst.Quelle
Bei den Vorfällen, die die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus 2023 erfassten waren etwa 61 Prozent der Vorfälle keinem Milieu zugeordnet – u.a. da viele Schmierereien oder Beschädigungen mit unbekannten Täter*innen unter den Vorfällen waren. 9 Prozent wurden einem rechtsextremen Hintergrund zugeordnet.Quelle
Wie werden antisemitische Straftaten erfasst?
Die Landeskriminalämter übermitteln dem Bundeskriminalamt alle politisch motivierten Straftaten. Die Länder ordnen sie ausgehend von den Motiven zur Tatbegehung und den Tatumständen verschiedenen „Themenfeldern" zu (u. a. Hasskriminalität, eine Unterkategorie davon ist Antisemitismus) sowie einem „Phänomenbereich“ (-links-, -rechts-, -ausländische Ideologie-, -religiöse Ideologie-, -sonstige Zuordnung-), abhängig von den ideologischen Hintergründen und Ursachen der Tatbegehung.
Die PMK ist eine Eingangsstatistik, im Gegensatz zur Polizeilichen Kriminalstatistik. Straftaten werden also schon zu Beginn der polizeilichen Ermittlungen in die PMK aufgenommen. Bis Ende 2023 wurden antisemitische Straftaten automatisch der Kategorie -rechts- zugeordnet, wenn es keine anderen Anhaltspunkte gab. Das wurde für die Erfassung 2024 geändert: Straftaten, fallen unter -sonstige Zuordnung-, falls der Phänomenbereich unklar ist.Quelle
Mehr zur Schwächen der PMK-Statistik hier.
Welche weiteren Statistiken gibt es neben der polizeilichen Kriminalstatistik?
Die polizeiliche Erfassung antisemitischer Straftaten steht in der Kritik: Viele Übergriffe würden nicht registriert, sagen Fachleute. Eine Untersuchung der Universität Bielefeld zeigt: Nur rund ein Viertel der Betroffenen antisemitischer Vorfälle hat diese gemeldet. Betroffene haben oft kein Vertrauen darin, dass die Behörden sie ernst nehmen oder sich durch die Anzeige etwas ändere.
Verschiedene Organisationen führen daher eigene Zählungen durch:
- Die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) erfassten 2023 bundesweit 4.782 antisemitische Vorfälle, das ist ein Anstieg um knapp 83 Prozent. Über die Hälfte der Vorfälle ereigneten sich nach dem 7. Oktober (2.787). Die Daten basieren auf Meldungen bei RIAS und Übermittlungen anderer Organisationen.Quelle
- Der Verband VBRG veröffentlicht jährlich Zählungen von Opferberatungsstellen, darunter Zahlen zu antisemitischen Gewalttaten nach dem Strafgesetzbuch: Für 2023 erfasste der Verband 318 Angriffe (2022: 201). Die erfassten Körperverletzungen haben sich von 2022 auf 2023 mehr als verdreifacht (von 21 auf 71).Quellehttps://verband-brg.de/wp-content/uploads/2024/05/VBRG_Jahresbilanz_rechte_Gewalt_2023_vorab_Sperrfrist210524_final.pdf
- Die Amadeu Antonio Stiftung führt eine Chronik antisemitischer Straftaten.Quelle
Wie oft nennen Medien die Herkunft von Tatverdächtigen?
Medien berichten weit häufiger über Gewalt-Delikte von Ausländer*innen, als es ihrem tatsächen Anteil in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik entspricht. Das zeigen mehrere Studien des Medienforschers Thomas Hestermann, die der MEDIENDIENST in Expertisen (2023, 2022 und 2019) veröffentlicht hat.
Die neusten Zahlen aus 2023 zeigen bei Gewalt-Delikten:
- In rund einem Drittel der Berichte wird die Herkunft des/der Tatverdächtigen genannt.
- In den Berichten, die die Herkunft nennen, werden Ausländer weit überproportional oft benannt: In Fernsehberichten in 83,9 Prozent und in Zeitungsberichten in 82 Prozent der Fälle, obwohl ihr tatsächlicher Anteil an Straftaten in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur rund einem Dritttel entspricht.
- Deutsche Tatverdächtige werden hingegen unterproportional oft dargestellt: Ihr Anteil an Gewalt-Delikten beträgt in Fernsehberichten 16,1 Prozent, in Zeitungsberichten 18,0 Prozent – in der Polizeilichen Kriminalstatistik hingegen 68,5 Prozent.
Zur Expertise und Zahlen zur Herkunftsnennung hier (Studie 2023), hier (Studie 2022) und hier (Studie 2019). Zur Expert*innen-Diskussion über die Forschungsergebnisse hier.
Wann sollten Medien die Herkunft nennen, wann nicht?
Wann spielt die Herkunft von Tatverdächtigen eine Rolle? Wann nicht? In einer Expertise für den MEDIENDIENST zeigen die Kriminologen Tobias Singelnstein und Christian Walburg den aktuellen Forschungsstand zu dieser schwierigen Frage. Sie soll es Journalist*innen erleichtern, die Abwägung zu treffen.
Die vollständige Expertise finden Sie hier.
Ein kurzes How To finden Sie hier.
- Herkunft und Zuwanderungsgeschichte sind "nicht entscheidend" für Kriminalität, so die Forscher. Kriminalität ist Folge einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere der Lebensumstände. Staatsbürgerschaft oder Migrationshintergrund können eine indirekte Rolle spielen. Ob das der Fall ist, lässt sich nur im Einzelfall beurteilen.
- Journalist*innen sollten die Herkunft nur dann nennen, wenn die Herkunft zum Verständnis des Geschehens wichtig ist ("Erklärungswert") und das schwerer wiegt als die negativen Folgen der Nennung ("Stigmatisierungsgefahr").
- Ein Beispiel sind die Ausschreitungen in Stuttgart im Juni 2020. Die Mehrheit der ermittelten Tatverdächtigen dürfte in Deutschland aufgewachsen sein: Unter den 100 ermittelten Tatverdächtigen waren 66 Deutsche, darunter 49 Deutsche mit Migrationshintergrund (Quelle). Nach bisherigem Kenntnisstand war das nicht von zentraler Bedeutung für die Erklärung der Vorkommnisse, sagen die Forscher. Wenn Tatverdächtige in Deutschland aufgewachsen sind, gebe es oftmals keinen Grund, den Migrationshintergrund oder die Staatsbürgerschaft zu nennen.
- Ein weiteres Beispiel sind Partner*innentötungen, über die in Medien immer wieder sehr ausführlich berichtet wird. In solchen Verbrechen zeigen sich häufig Besitz- und Kontrollansprüche, die bei Einheimischen und Zugewanderten vorkommen. 2019 waren knapp zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen in diesem Bereich Deutsche. Wenn im Einzelfall überholte Vorstellungen wie die "Verteidigung der Ehre der Familie" eine Rolle gespielt haben, kann dies dafür sprechen, dass Medien die Herkunft von Tatverdächtigen erwähnen und diese Bezüge erklären.Quelle
Regelung zur Herkunftsnennung im Pressekodex
Geregelt ist die Herkunftsnennung in Richtlinie 12.1 des Pressekodex. Der Deutsche Presserat änderte sie 2017 mit einer umstrittenen Entscheidung. Zuvor sollte die Herkunft nur dann genannt werden, wenn es einen Zusammenhang zur Tat gab. Seit 2017 steht im Kodex, die Zugehörigkeit eines Verdächtigen oder Täters zu einer ethnischen, religiösen oder anderen Minderheit sei nur dann zu nennen, wenn „ein begründetes öffentliches Interesse“ bestehe. Das sei etwa der Fall, wenn es sich um besonders schwere oder außergewöhnliche Straftaten wie Terrorismus handelt oder wenn Straftaten aus einer größeren Gruppe begangen wurde, in der viele ein gemeinsames Merkmal wie die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gruppe teilen (Beispiel: Kölner Silvesternacht).
Expert*innen warnen davor, dass die Nennung der Herkunft eines Einzelnen zu einer Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen führen kann. Die Herkunft sollte daher nur dann genannt werden, wenn im Bericht erklärt wird, warum diese für die Tat relevant ist.
Ob Medien über die Nationalität von Tatverdächtigen berichten, kann auch davon abhängen, ob die Polizeibehörde in der jeweiligen Polizeimeldung die Nationalität erwähnt. Eine NDR-Recherche 2021 zeigte: Unter den Bundesländern gibt es keine einheitliche Linie, wie die Polizei mit der Nennung von Nationalitäten umgeht. Selbst innerhalb der Länder gibt es Unterschiede: Einige Polizeidienststellen nennen die Staatsangehörigkeit fast in jeder vierten Meldung, andere fast nie.Quelle
Wie viele "Ehrenmorde" gibt es?
Bundesweit werden immer wieder "Ehrenmorde" debattiert, unter anderem 2005 nach dem Mord an Hatun Sürücü. In einer Schätzung von 2011 gingen Forscher*innen von etwa 12 Fällen pro Jahr aus. In drei Fällen pro Jahr handelte es sich um "Ehrenmorde" im engeren Sinne (siehe Definition unten). Grundlage für diese Schätzung ist die Untersuchung von 78 "Ehrenmorden" zwischen 1996 und 2005, zu denen Gerichtsakten vorlagen.Quelle
Die Täter waren fast alle ausländische Staatsbürger, die selbst nach Deutschland zugewandert sind. Auch wenn viele Taten von Muslimen begangen wurden, seien auch Christen unter den Tätern, betonen die Forscher*innen. Entscheidend sei nicht die Religion, sondern die Herkunft aus agrarisch geprägten Regionen mit geringem staatlichen Gewaltmonopol.Quelle
Viel häufiger als die sogenannten Ehrenmorde sind Partner*innentötungen aus anderen Motiven (darunter viele "Femizide"): 2019 gab es rund 400 Fälle von (vollendeter oder versuchter) Partner*innentötung, 140 Partner*innen starben. Knapp zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen hatten die deutsche Staatsangehörigkeit. Die dahinterstehenden "Besitz- und Kontrollansprüche" von Männern seien im Grundsatz universell, sagen die Kriminologen Walburg und Singelnstein.Quelle
Dass es eine Art "Kultur-Rabatt" für "Ehrenmorde" vor Gericht gebe, ist ein Mythos, erklärt die Juristin und Kriminologin Julia Kasselt in einem MEDIENDIENST-Interview 2014. Im Gegenteil: Deutsche Gerichte sehen in der Verteidigung der Ehre einen "niedrigen Beweggrund" – "Ehrenmorde" werden also in der Regel härter bestraft als vergleichbare Delikte.Quelle
Umstrittener Begriff "Ehrenmord"
Der Begriff "Ehrenmord" ist umstritten, unter anderem weil er die Sicht der Täter wiedergibt. Bei vielen Fällen handelt es sich um Grenzfälle zur sogenannten "Blutrache" oder "Partner*innentötung". Zwei Jurist*innen vom "Max Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht" haben 2011 eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts verfasst und die Tatbestände folgendermaßen definiert:
- Ehrenmord im engeren Sinn ist die Tötung eines Mädchens oder einer Frau durch ihre Blutsverwandten zur vermeintlichen Wiederherstellung der kollektiven Familienehre.
- Grenzfälle zur Partner*innentötung: Die gewaltsame Reaktion eines (Ex-) Partners auf das Unabhängigkeitsstreben, Trennung bzw. Trennungsabsicht oder (vermutete) Untreue einer Ehefrau oder Partnerin.
- Blutrache: Ist die Tötung eines Mitglieds aus einer Familie, um damit die vermeintliche Ehrverletzung an einem Mitglied der eigenen Familie zu rächen.Quelle
News Zum Thema: Kriminalität
Zahlen und Fakten Kriminalität und Migration
Wie viele Straftaten begehen Geflüchtete? Und gibt es einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft? In unserem Dossier gibt es die wichtigsten Zahlen und Fakten sowie den aktuellen Forschungsstand zum Thema Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft.
Statistiken und Forschung Messerkriminalität: Welche Rolle spielt die Nationalität?
2023 gab es eine Zunahme von Messerangriffen in Deutschland. Was besagen die Statistiken des Bundes und der Bundesländer zu "Messerkriminalität" und welche Rolle spielt die Nationalität? Der Mediendienst hat Zahlen und Forschung zum Thema zusammengetragen.
Polizei-Lagebilder Was ist "Clankriminalität"?
Die Bundesländer Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen veröffentlichen jedes Jahr ein "Lagebild Clankriminalität". Der Mediendienst Integration hat die Lagebilder analysiert.