Im Mai 2014 veröffentlichte die "Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung" (OECD) ein Papier unter dem Titel "Migration Policy Debates: Is migration really increasing?" Darin heißt es: "Nach den USA ist Deutschland inzwischen das zweitgrößte Einwanderungsland der OECD, aufgestiegen von Platz acht seit 2009". In der Berichterstattung wurde die Analyse etwas verkürzt wiedergegeben: "Deutschland ist zu einem der attraktivsten Zuwanderungsländer der Welt geworden", schrieb beispielsweise Spiegel Online (siehe dazu auch Die Welt, taz.de, faz.net, Zeit Online, usw.).
Inzwischen ist die Aussage im deutschen Migrationsdiskurs zur Binsenweisheit geworden. Sie findet sich in den Medien immer wieder, zuletzt in der Debatte um die Frage, ob Deutschland ein neues Einwanderungsgesetz braucht: "Deutschland ist nach den USA das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt", erklärte beispielsweise der Chef des Kanzleramts Peter Altmeiter (CDU) vor wenigen Tagen in der BILD. Deswegen brauche es die Debatte auch innerhalb seiner eigenen Partei.
Als Argument dient die Annahme inzwischen Migrationsbefürwortern wie -gegnern. Doch ein genauer Blick auf die globalen Migrationsbewegungen zeigt: Die Idee, Deutschland sei "weltweit auf Platz zwei", ist nicht haltbar und wurde so von der OECD auch nicht wiedergegeben.
1. Deutschland ist nicht weltweit das Einwanderungsziel Nummer zwei
Die OECD-Untersuchung bezieht sich auf Wanderungszahlen von 2012. Demnach lebten damals in Deutschland rund 400.000 Einwanderer länger als ein Jahr im Land. Damit ist Deutschland erstmals in der OECD an zweite Stelle gerückt. Platz eins belegte mit großem Abstand weiterhin die USA (über einer Million Einwanderer).
Ein wichtiger und oft vernachlässigter Aspekt: Das OECD-Ranking bezieht sich ausschließlich auf die 34 Industrieländer, die der Organisation angehören. Damit liegen zwar weltweite (und nicht nur EU-weite) Vergleichsdaten vor. Doch die Angaben sagen wenig über Migrationsbewegungen weltweit aus.
"Die Behauptung, Deutschland sei das zweitwichtigste Zielland weltweit, ist so nicht korrekt", erklärt etwa Guy Abel vom "Vienna Institute of Demography" , der die Studie "The Global Flow of People" mitkoordiniert hat. Ein bedeutender Teil der Migrationsbewegungen findet demnach außerhalb von Industrienationen statt. Abel rät grundsätzlich zur Vorsicht, wenn es um internationale Vergleiche geht: „Wir verfügen innerhalb von Asien oder Afrika über sehr ungenaue Migrations-Daten."
Das Hauptproblem: In vielen Ländern fehlt eine Infrastruktur, die es ermöglicht, Einwanderer zu erfassen. Die Zahl der Migranten aus Zimbabwe, die in Südafrika leben, wird zum Beispiel zwischen einer und drei Millionen geschätzt.
Die Studie der Wiener Forschergruppe zeigt, dass die wichtigsten Wanderungen innerhalb einzelner Weltregionen stattfinden. Das bedeutet: Anders als oftmals angenommen haben Migranten aus Afrika und Asien nicht Europa als Ziel, sondern Länder in ihrer Nähe. So berichtet die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass in Westafrikarund 70 Prozent der Wanderungen innerhalb der Region stattfinden.
Auch die Behauptung, Migration würde vor allem von ärmeren in reichere Großregionen stattfinden, ist irreführend. Nach Schätzungen der IOM wandern nur 40 Prozent aller Migranten von "armen" in "reiche" Länder (sogenannte Süd-Nord Migration). Die vermutlich größte Wanderungsbewegung der vergangenen zehn Jahre fand laut Angaben des "Vienna Institute of Demography" zwischen Süd- und Westasien statt: Mehr als fünf Millionen Menschen sind in diesem Zeitraum von Pakistan, Indien und Bangladesch auf die Arabische Halbinsel gewandert.
2. Im Verhältnis zur Bevölkerung ist die weltweite Migration nicht dramatisch gestiegen
Der UNHCR meldete kürzlich, dass derzeit etwa 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind. Das ist die höchste Zahl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig steige die Zahl der Einwanderer in den Industrieländern. Das heißt jedoch nicht, dass mehr Menschen migrieren als sonst, sagt Demographie-Experte Guy Abel: „In der Welt leben inzwischen auch mehr Menschen als je zuvor. Es gibt zwar mehr Migranten, doch der Anteil der Menschen, die von einem Land ins andere wandern, hat sich nicht wesentlich geändert." Zwischen den 60er Jahren und 2010 seien fast durchgehend 0,6 Prozent der Weltbevölkerung in Bewegung gewesen.
Leichte Schwankungen gebe es allerdings schon: Zwischen 1990 und 1995 konnten die Wiener Forscher einen Höchstwert von 0,7 Prozent messen. „Das beweist, dass historische politische Krisen wie der Mauerfall oder der Krieg in Jugoslawien die wichtigsten Beweggründe für Migration sind“, so Abel. Aufgrund der fortdauernden Krisen in Syrien, Irak und Nordafrika erwarte das "Vienna Institut of Demographie" auch für den Zeitraum 2010-2015 einen ähnlichen Wert.
3. Deutschland ist nicht Zielland Nummer eins für Asylsuchende
Es stimmt, dass seit 2013 Deutschland das Land ist, in dem nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) jährlich die meisten Asylanträge weltweit gestellt werden. 2014 sah die Rangliste der Aufnahmeländer nach den Erstanträgen so aus: Platz 1: Deutschland (173.000), Platz 2: USA (121.000), Platz 3. Türkei (88.000), Platz 4: Schweden (75.000), Platz 5: Italien (64.000).
Doch die Zahlen sagen nur bedingt etwas über die tatsächliche Anzahl von Flüchtlingen in einzelnen Staaten weltweit aus: In vielen Ländern gibt es kein Asylsystem, das eine Erfassung anhand von Asylanträgen ermöglicht. So flüchteten im Jahr 2014 aus Syrien rund 250.000 allein nach Libanon. Auch in der Türkei bekommen syrische Flüchtlinge Schutz, ohne dass sie einen Asylantrag stellen müssen. 2015 sind es bereits 1,8 Millionen.
Wenn man die Gesamtzahl der Flüchtlinge nimmt, die in den verschiedenen Ländern leben, steht Deutschland laut UNHCR keineswegs an der Spitze:
Von Fabio Ghelli
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