Deutsche "Volkszugehörige" aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion – sogenannte Aussiedler und Spätaussiedler – sind die größte Einwanderergruppen in der Bundesrepublik. Laut Definition des Innenministeriums handelt es sich bei ihnen um „Personen deutscher Herkunft, die in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben (und die) noch Jahrzehnte nach Kriegsende aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit massiv verfolgt“ wurden.
Sie genießen seit der frühen Nachkriegszeit einen besonderen Schutz in der Bundesrepublik. 1953 bat ihnen die Bundesregierung dann unter Konrad Adenauer mit dem Bundesvertriebenengesetz an, gemeinsam mit ihren Familien einzuwandern und hier volle Bürgerrechte zu genießen, die ihnen nach dem Grundgesetz zustehen.
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kamen zwischen 1950 und 2013 rund 4,5 Millionen Aussiedler nach Deutschland. Eine neue BAMF-Studie hat die heterogene Gruppe erstmals genauer analysiert: Wer ist da eigentlich gekommen und wie ergeht es ihnen in Deutschland?
Migration nach Deutschland: Die Einwanderungsgeschichte der Aussiedler ist laut Autoren in zwei Hauptphasen aufgeteilt:
- Von 1950 bis 1990 wanderten rund 1,2 Millionen Deutsche aus Polen und Osteuropa ein (Aussiedler).
- Nach 1990 kamen rund zwei Millionen sogenannte „Russlanddeutsche“ aus der ehemaligen Sowjetunion (Spätaussiedler). Die meisten von ihnen kamen aus der Republik Kasachstan (575.000), wohin das Stalin-Regime die "Russlanddeutschen" während der Kriegszeit verbannt hatte.
In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Zuwanderungen drastisch zurückgegangen, nachdem für Angehörige wie Ehepartner und Kinder strengere Einreisebedingungen eingeführt wurden. Dadurch stieg das Durchschnittsalter der Aussiedler zwischen 1989 und 2009 von 24 auf 46 Jahre. Inzwischen sind Aussiedler die "älteste" Einwanderergruppe der Bundesrepublik.
Startbedingungen in Deutschland: Betrachtet man die Faktoren, die laut Wissenschaftlern die Integration von Einwanderen begünstigen, haben (Spät)Aussiedler einige Vorteile: Sie erhalten automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit und haben in den meisten Fällen bereits vor der Einreise gute Deutschkenntnisse. Deshalb schneiden sie in Integrationsrankings oftmals überdurchschnittlich gut ab.
Die meisten Aussiedler (rund 96 Prozent) kamen laut BAMF-Studie bereits mit einer Vorbildung nach Deutschland, wie zum Beispiel mit einem Real- oder Hauptschulabschluss oder einer Berufsausbildung. Doch nur jeder fünfte Abschluss wurde in Deutschland anerkannt.
Ihre Erwerbstätigenquote übertrifft die der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Die meisten von ihnen gehen allerdings relativ einfachen Arbeiten nach – vor allem im produzierenden Gewerbe. Das Nettoeinkommen der Aussiedler und Spätaussiedler liegt laut Untersuchung zwischen 1.500 und 3.200 Euro.
Politische Haltung: Anders als andere Einwanderer haben Aussiedler durch die deutsche Staatsangehörigkeit von Anfang an ein Recht auf eine politische Partizipation. Nach Angaben des BAMF sind sie allerdings deutlich weniger politisch interessiert als sonstige Einwanderergruppen. Wenn sie politisch sind, tendieren sie zu konservativen und christlichen Parteien.
Soziales Umfeld und Heiratsverhalten: Aussiedler haben offenbar starke innerfamiliäre Bindungen und leben eng mit ihren Familienmitgliedern. Vor allem Spätaussiedler aus Russland, die oftmals mit ihren Verwandten nach Deutschland zogen, tendieren zu Freundschaften und Eheschließungen mit anderen Spätaussiedlern: Weniger als zwanzig Prozent der Aussiedler gehen eine bikulturelle Ehe ein.
Die starke Bindung zur eigenen Gemeinschaft lässt sich laut der Studie vor allem bei jungen Spätaussiedlern erkennen, die aufgrund ihrer Herkunft besondere Schwierigkeiten haben, eine Arbeit zu finden. Sozialpädagogische Studien zeigen: Obwohl sie einen deutschen Pass haben, fühlen sich viele junge Spätaussiedler nicht als vollwertige deutsche Staatsbürger angenommen. Das führt wiederum zu einer starken Identifizierung mit der Eigengruppe: Sie werde leidenschaftlich idealisiert, während andere "Fremdgruppen" tendenziell als minderwertig angesehen werden.
Fazit: Die Studie weist auf weiterhin bestehende Herausforderungen hin, wenn es um gleichberechtigte Teilhabe und Integration der speziellen Einwanderergruppe geht. Die Untersuchung zeigt allerdings auch: Junge Spätaussiedler und Aussiedler wollen dennoch in Deutschland bleiben. So blieb der Versuch der russischen Regierung größtenteils erfolglos, Russlanddeutsche in ihre ehemaligen Wohngebiete in Sibirien und an der Wolga zu locken. Zu diesem Zweck hatte der Kreml 2008 das "Programm zur Förderung des freiwilligen Umzugs von Landsleuten aus dem Ausland nach Russland" gestartet.
Randnotiz: Der deutsche Gesetzgeber verlangt von Aussiedlern und Spätaussiedlern, dass sie sich in Russland und Osteuropa nicht der Mehrheitsgesellschaft anpassen. So gilt nach Bundesvertriebenengesetz als deutscher Volkszugehöriger nur, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird”.
Von Fabio Ghelli
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