Die Definitionen von Antisemitismus und seinen Erscheinungsformen sind vielfältig. Er kann religiös, nationalistisch, politisch, rassistisch, sozial, antizionistisch oder einer Mischung daraus motiviert sein. Er kann latent in Form judenfeindlicher Einstellungen aufreten oder sich manifest in Übergriffen auf Juden, Sachbeschädigungen oder Propaganda äußern.
Die Frage, was antisemitisch ist, sorgt in Deutschland immer wieder für heftige und emotional geführte Debatten. In der Vergangenheit ging es dabei zum Beispiel um den Umgang mit dem Holocaust. So löste der Schriftsteller Martin Walser eine breite Diskussion aus, als er 1998 in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels die "Dauerrepräsentation unserer Schande" beklagte und forderte, das Erinnern an den Holocaust auf das Private zu beschränken und damit einen Schlussstrich unter das öffentliche Gedenken zu ziehen. In jüngster Zeit hingegen sorgten ein Gedicht von Günter Grass und die Kolumnen des Journalisten Jakob Augstein für Debatten darüber, wo legitime Kritik an der israelischen Politik aufhört und antisemitische Ressentiments anfangen.
Zunahme des Antisemitismus unter Muslimen?
Hinzugekommen ist in den vergangenen Jahren ein weiteres Thema: Antisemitische Übergriffe oder Anfeindungen durch Jugendliche, denen ein türkischer, arabischer oder muslimischer Familienhintergrund zugeschrieben wird, erfahren große mediale Aufmerksamkeit. Das hat die öffentliche Wahrnehmung verstärkt, sie seien besonders anfällig für judenfeindliche Einstellungen oder gar die Repräsentanten eines "neuen, muslimischen Antisemitismus".
Allerdings gibt es bislang so gut wie keine Forschungserkenntnisse, die das belegen:
- So finden sich keine Untersuchungen, die eine Zunahme des Antisemitismus unter diesen Jugendlichen belegen würden.
- Auch sind sich Wissenschaftler überwiegend einig, dass es keinen "neuen" oder spezifisch "muslimischen" Antisemitismus gibt und keinen monokausalen Zusammenhang zwischen Herkunft und judenfeindlichen Einstellungen.
- Für den Eindruck, die meisten antisemitischen Gewalttaten gingen mittlerweile von Jugendlichen mit arabischem, türkischem oder muslimischem Hintergrund aus, gibt es ebenfalls keine statistischen Belege. Die von den Landeskriminalämtern registrierten antisemitischen Gewalttaten zeigen, dass die meisten Täter weiterhin aus dem rechten Spektrum kommen (84 Prozent der Täter im Jahr 2010). Zwar entfielen im selben Jahr 16 Prozent der politisch motivierten antisemitischen Gewalttaten auf die Kategorie "Ausländer". Diese bezieht sich jedoch nicht etwa auf die nationale Herkunft der Täter, sondern nur darauf, dass der Straftat eine "im Ausland begründete Ideologie" zugrundelag. Wie viele der Täter einen "muslimischen Migrationshintergrund" haben, wird nicht erfasst.
Weitere Zahlen, Fakten und Hintergrundinformationen zum Thema "Antisemitismus" finden Sie in unserer neuen Rubrik.
Von Rana Göroğlu, MDI
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